Neugelesen, Folge 71: »Rhythmus des neuen Europas« von Gerrit Engelke

Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer gilt jedoch, ganz gleich, wie alt sie sind: Ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.


Pochend, pochend, fort und fort
Treibt die Lebensgas-Maschine.
Pochend, pochend, fort und fort.
Treibt im Kreis die Herz-Turbine

Aus Gerrit Engelkes Gedicht Blut – Strom von 1912, enthalten in seinem aus
dem Nachlass zusammengestellten Lyrikband Rhythmus des neuen Europas

Gerrit Engelke hatte ein sehr kurzes Dichterleben. Er wurde 1890 geboren – und starb bereits 1918, im ersten Weltkrieg. Zuvor absolvierte die Volksschule und reihte sich dann in die Arbeiterklasse ein. Auch wenn der Arbeiter heute immer noch ein politisches Objekt in Debatten ist, so gibt es doch wenig Anlass zu meinen, dass es noch eine Arbeiterklasse in Deutschland gäbe, der die Industrie in einem so poetischen wie beunruhigenden Maße ins Fleisch geschrieben ist, wie Engelke es in Blut – Strom verdichtet. Das Gedicht ist dem posthum bei Diederichs in Jena erschienen Sammelband Rhythmus des neuen Europas von 1921 entnommen. Ein spannender Titel, denn die Arbeiterklasse hatte doch gute Gewissheit über den Takt der fortschreitenden Industrialisierung. Und eben dieser Takt findet sich zuhauf in Engelkes Lyrik. Die Fabrik im Vorort, Schlot um Schlot verteilt sie »Straßenkot«; die Lokomotive, das schwarze, stiebende Biest, dass doch nur seine Last zieht; der Weltgeist, emporsteigend aus Stollen, getrieben vom Handel in Häfen, seine Kraft demonstrierend, wo »Eisenzüge qualmend von Stadt zu Städten stampfen«.

Engelkes Gedichte sind jugendliche Gedichte, die gleichermaßen Staunen wie Überforderung über das neue Europa ausdrücken. Heute, gute einhundert Jahre später, sind sie ein wichtiger Anlass dafür, über den jetzigen Rhythmus unseres Europas und unseres Planeten nachzudenken. Der Weltgeist qualmt zunehmend weniger und verschwindet mehr und mehr in Leitungen und auf Servern, die das Wissen – und Unwissen – der Welt beherbergen. Die Arbeiterklasse ist weitgehend dem tendenziell klassenlosen Angestellten gewichen. Die Stahlindustrie mit ihren Schmieden und Generatoren gibt nicht mehr den Takt an. Im Gegenteil: Die Stahlindustrie soll mit staatlichen Mitteln gerettet werden. Außerdem ist abzusehen, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wird. Unser aktueller Verteidigungsminister ist davon überzeugt, dass wir damit die richtigen Lehren aus dem kalten Krieg zögen. Grund zur Angst gebe es nicht.

Gerrit Engelke hatte 1915 ein Angebot seines Dichter-Freundes Heinrich Lersch abgelehnt, der ihn für seine Kesselschmiede anwerben hatte wollen. Nun wurde Engelke einberufen. Er hatte keine Angst. Er war kriegsbereit, wie so viele Dichter seiner Generation. Er wurde nur 28 Jahre alt. Engelke hat in seiner Lyrik die damalige Lebenswirklichkeit der Arbeiter sehr eindrücklich vermittelt. Er war noch kein Expressionist, aber thematisch und stilistisch hat er den Expressionisten doch einiges überliefert. Es wäre nun ein guter Zeitpunkt in der Geschichte, um ihn und andere seiner Generation als Dichter wiederzuentdecken, ihre Verse auszugraben. Künstlerisch, emotional und politisch könnten wir aus dieser Lyrik die wahrscheinlich besseren Lehren ziehen.



David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal (Foto: Volker Derlath)



David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.




Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert