Neugelesen, Folge 67: »Poetische Sprachspiele«, herausgegeben von Klaus Peter Dencker

Bücher können auftauchen und glänzen, aber auch einstauben und verschwinden – immer gilt jedoch, ganz gleich, wie alt sie sind: Ihre Texte wollen neuentdeckt werden! David Westphal stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor.


Viel Weiß auf einer Seite. Das ist bisher die überzeugendste Definition von Lyrik, die ich kenne. Denn Metrum, Reim, Vers, Strophe verflüssigen sich im Laufe der Literaturgeschichte. Jedes Kriterium wurde zu irgendeinem Zeitpunkt angefochten. Das liegt sicher an Wesenszügen der Kunst, die stets darauf aus ist, ihrer Festsetzung zu entgehen. Einer der Bände, bei denen mir das so deutlich wie selten vor Augen geführt wurde, sind die »Poetischen Sprachspiele« aus dem Reclam-Verlag. Sie versammelt entsprechende Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, wobei die Gegenwart irgendwann um die Jahrtausendwende endet, denn die Anthologie ist von 2002. Von »komplizierten Lettern-, Reim- und Verskonstruktionen […], über die visuellen und akustischen poetischen Erfindungen bis zum Spiel mit der Semantik, den Sinnverkehrungen, dem Rätsel, den Täuschungen« reiche das Spektrum, schreibt Herausgeber Klaus Peter Dencker in seinem Nachwort. Und ich meine, nachdem ich dieses Juwel für mich entdeckt habe: So viele lustvolle Irrwege und Sprachspiele, man kann Monate bis Jahre damit zubringen!

Mich wirft es dabei immer wieder auf Fragen über Sprache zurück. Sprache ist mehr als bloße Etikettierung. Sie erschöpft sich nicht darin, einen Baum zu sehen und ihn Baum zu nennen. Und überhaupt: Sind denn alle Pflanzen, die wir Bäume nennen, auch Bäume? Beim Buchsbaum zum Beispiel ist das sehr zu hinterfragen, um einmal botanisch zu argumentieren. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat letztes Jahrhundert den Begriff Sprachspiel populär in die Sprachphilosophie eingeführt. Ihm zufolge sind Wörter und Sätze immer in Kontexte eingebunden, und auch wenn Ähnlichkeiten sich durch unterschiedliche Sprachspiele winden (er nannte dies Familienähnlichkeit), so bleibt doch eine Differenz. Für unser Beispiel gilt: Was Baum genannt wird, ist nicht in allem gleich dem anderen Baum. Wittgenstein führt dies am Begriff des Spiels aus.

So verhält es sich auch mit der Lyrik. »Des Tillys Haushaltung« ist ein anonymes Symbolgedicht aus dem Barock. Beinahe schon ein Bilderrätsel. Johann Steinmanns »Springbrunnen« aus dem 17. Jahrhundert folgt ein paar Seiten später und ist ein geradezu pompöses Beispiel für ein visuelles Gedicht. Franz Mon, Joachim Ringelnatz, Günter Bruno Fuchs, Ror Wolf, Michael Lentz, Kurt Schwitters, Eugen Gomringer und so weiter: Sie alle haben an verschiedenen Stellen ihres Werkes mit der Sprache experimentiert und so das Sprachspiel Lyrik erweitert. Diese Vielfalt an Grenzgang macht die »Poetischen Sprachspiele« so wertvoll. Und selbstverständlich sind alle Quellen gut im Anhang dokumentiert: So steht auch dem weiteren Entdeckergeist und der fortgesetzten Gedankenakrobatik nichts im Wege.


Klaus Peter Dencker (Hg.)
Poetische Sprachspiele
Vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Reclam 2002
Taschenbuch
430 Seiten
13,80 Euro
ISBN 978-3-15-018238-3



David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal (Foto: Volker Derlath)



David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.




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