Reisepoesie Folge 5:
Ernst Stadler │»Bahnhöfe«

In 21 Folgen stellt die Online-Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT internationale Reisepoesie aus vier Jahrtausenden vor. So können Sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg zur neuen Ausgabe von DAS GEDICHT begeben. Die buchstarke Nummer 21 wird ab Herbst 2013 zeitgenössische Gedichte versammeln, die ums Reisen kreisen.

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http://youtu.be/DziqbBp0Qys

Ernst Stadler
»Bahnhöfe«

Wenn in den Gewölben abendlich
die blauen Kugelschalen
Aufdämmern, glänzt ihr Licht in die Nacht hinüber
gleich dem Feuer von Signalen.
Wie Lichtoasen ruhen in der stählernen Hut
die geschwungenen Hallen
Und warten. Und dann sind sie
mit einem Mal von Abenteuer überfallen,
Und alle erzne Kraft
ist in ihren riesigen Leib verstaut,
Und der wilde Atem der Maschine, die wie ein Tier
auf der Flucht stille steht und um sich schaut,
Und es ist,
als ob sich das Schicksal vieler hundert Menschen
in ihr erzitterndes Bett ergossen hätte,
Und die Luft ist kriegerisch erfüllt
von den Balladen südlicher Meere
und grüner Küsten und der großen Städte.
Und dann zieht das Wunder weiter.
Und schon ist wieder Stille und Licht
wie ein Sternhimmel aufgegangen,
Aber noch lange halten die aufgeschreckten Wände,
wie Muscheln Meergetön, die verklingende Musik
eines wilden Abenteuers gefangen.

(aus Die Aktion, Nr. 3 vom 15.01.1913, Sp. 82f.)

Über Ernst Stadler

1910 wird der Komparatist Ernst Stadler (1883 – 1914) von der Gesellschaft für elsässische Literatur dazu aufgefordert, anlässlich des Stiftungsfestes der Vereinigung einen Festvortrag über die elsässische Literatur zu halten. Was Stadler ablieferte, empörte einige der damals »völkisch« gesinnten Dummköpfe Straßburgs. Auf dem Stiftungsfest beschreibt Stadler die elsässische Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts im Sinne eines Clash of Civilizations, nur ohne Clash. Die Vermischung der französischen und deutschen Kultur im Elsass mache die besondere Produktivität und Imagination ihrer Dichtung aus, so Stadler. Diese These mag für uns im 21. Jahrhundert leicht nachzuvollziehen sein, für das frühe 20. Jahrhundert, zumal (anno 1910) unter von panischen Reinheitsphantasien geplagten Deutschnationalen, war sie wohl nicht so entspannt hinzunehmen.

Das in diesem Blog-Beitrag ausgewählte Gedicht Ernst Stadlers steht stellvertretend für dessen kosmopolitisches und europäisches Verständnis von Literatur. Stadler setzte immer wieder Übersetzung nicht nur als Mittel der Stilübung für höhere Töchter, sondern des Dialoges unter den Völkern ein und seine Biographie ist ein einziger kulturübergreifender Gestus (z. B. seine Bearbeitung der deutschsprachigen Shakespeare-Rezeption u. a. bei Wieland).

Diese Auswahl von Reisegedichten aus vier Jahrtausenden wird Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Zuletzt erschien »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Im Herbst erscheint »Am Ende der Zeilen. Gedichte.«

Mehr Reisegedichte erwarten Sie in DAS GEDICHT 21 (erscheint im Oktober 2013).

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