Reisepoesie Folge 7:
John Henry Mackay │»El Escorial«

In 21 Folgen stellt die Online-Redaktion der Zeitschrift DAS GEDICHT internationale Reisepoesie aus vier Jahrtausenden vor. So können Sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg zur neuen Ausgabe von DAS GEDICHT begeben. Die buchstarke Nummer 21 wird ab Herbst 2013 zeitgenössische Gedichte versammeln, die ums Reisen kreisen.

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http://youtu.be/97Y7BwAn0cQ

John Henry Mackay
»El Escorial«

In El Escorial, dem Dome,
Stehen düster-hohe Säulen,
Und die Schatten toter Zeiten
Gleiten zwischen ihnen hin.

In El Escorial, dem Dome,
Ist ein Kreuzgang. Schwarzes Grauen
Weht von seinen Wänden nieder
Auf den Wanderer, der ihm naht.

In El Escorial, dem Dome,
Steht im Kreuzgang, halb im Schatten,
Ein geweihtes Wasserbecken.
Kaum befeuchtet ist der Stein.

In El Escorial, dem Dome,
Tritt ein jeder zu dem Becken,
Beugt sich über seine Brüstung
Und befeuchtet seine Hand.

In El Escorial, dem Dome,
Hat im Lauf der dunklen Zeiten
Dieses Marmorbeckens Ränder
Tief der Frommen Schar gehöhlt.

In El Escorial, dem Dome,
Wo die Zeiten spurlos sterben,
Zwingt des Wahnes dunkler Wahnsinn
Selbst den Stein zu seinem Dienst.

In El Escorial, dem Dome,
Sinkt der Mut der Wahrheit nieder.
Wieviel Jahre wird es währen,
Bis der Fels des Wahns sich höhlt?

Über John Henry Mackay

John Henry Mackay (1864 – 1933) schleuste in seinem Leben den schottischen Mutterwitz seiner Wiege durch die Arme der seltsamsten Kultur, die jemals auf Erden war und immer unverständlich bleiben wird, nämlich durch die der preußischen Welt mit ihrer Mischung aus Militarismus und Spiritismus. Mackay wuchs teilweise im Saarland auf und schrieb in deutscher Sprache. Er zählt zu den Vorläufern des Naturalismus. Seine Vorstellungswelt jedoch ist stark geprägt von seinem sozialen Umfeld, in dem sich nicht nur Theosophen, Okkultisten und Anarchisten finden, sondern auch Morphinisten und Mitglieder des naturalistischen Dichterkreises Friedrichshagen.

Das Gedicht »El Escorial«, das im November 1886 entstand, gleicht einem Snuff-Movie, der die drohende Implosion eines Symbols allzu rigoristischer Religiosität ausarbeitet.

Diese Auswahl von Reisegedichten aus vier Jahrtausenden wird Ihnen von Paul-Henri Campbell präsentiert. Campbell ist 1982 in Boston (USA) geboren und schreibt Lyrik sowie Prosa in englischer und deutscher Sprache. Zuletzt erschien »Space Race. Gedichte:Poems« (2012). Im Herbst erscheint »Am Ende der Zeilen. Gedichte.«

Mehr Reisegedichte erwarten Sie in DAS GEDICHT 21 (erscheint im Oktober 2013).

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