Sinnliche Lyrik, Folge 8: Schauderkühle Gedichte von Verena Gotthardt

Die Reihe »Sinnliche Lyrik« vereint zeitgenössische Gedichte, die mit einem sinnlichen Sprachgebrauch spielen, die in ihrer Körperlichkeit klingen und wirken. Jeden zweiten Monat, jeweils am 25., stellt Sophia Lunra Schnack eine weitere Kostprobe vor – und mit ihr einen neuen Dichter oder eine neue Dichterin.


Verena Gotthardt

dem Hebst seinen Rücken entlang

eingeschichtet nämlich
wenn du mir eine Geschichte
erzählst, sage ich und
stehe auf aus dem Traum
und gehe

wir teilen uns den Schlaf
auf mehrere Teile
wir teilen uns den schlechten Schlaf

die Träume
den Morgen
den Wind
auf den Wimpern zitternd

marschieren so
und es wird Herbst
und wird Winter
und wird ein alter Sommer
sein irgendwann
auf der Haut
oder unter den Augen

unerträglich nämlich
die letzten Tage

es ist wie es ist
steht auf der Plakette
geschrieben

liegt stumm
ein Nagel in der Rinde
eingeschichtet nämlich
sagst du

stehst auf und gehst
dem Herbst seinen Rücken
entlang


im Wald mit den Pinien

legt sich das Innere nicht mehr nieder / und
steht da / wie ein Pinienwald /
in frostklirrende Hände ruheloser Tage gelegt / zieht
eine Wolke niedergedrückt / zieht ihre Runden /
bald aber /
löst sich das Innere nicht mehr auf / steht da wie der bauchige Kern /
trocken und staubig / wie der hungrige Fischer / blitzt auf / und /
die Krone bedeckt / spiegelt sich das Wasser /
greift nach dem glänzenden Kiemen / und lässt ab von der Welt /

die / stumpf gewordene / und / unklar abgebildete /


im Nordwind verhaftet

mit bebenden Händen / zeichnet
lange etwas / dann lange nichts

winkender Abschied / oder soll ich
die gelb-braunen Blätter / zurück
an die vertrockneten Äste kleben

blühender Holunderzweig / bin
dort hängen geblieben / oder
wie soll ich sagen

im Nordwind verhaftet

lass die Zeit dort, wo sie ein Haus /
und tief in der Erde gegraben hat

legt sich hin / im Regen

lässt es sich die Zeit nicht
nehmen / reißt alles an sich

ein reißender Strom

lässt mir nur die Ahnung von gestern /
wie die Hand mit den bloßen Fingern in
die Disteln greift


Die letzten beiden Gedichte sind übernommen aus ihrem Lyrikband »lass mir die Ahnung von gestern« (Bibliothek der Provinz 2023), das Auftaktgedicht hingegen ist hier in der »Sinnlichen Lyrik« erstveröffentlicht.

© für alle drei Gedichte: Verena Gotthardt, Wien (Österreich)


Zur Autorin:
Verena Gotthardt, geboren 1996 in Klagenfurt, abgeschlossenes Diplomstudium der Fotografie und bildenden Kunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien, lebt in Wien. Sie schreibt Lyrik und Kurzprosa in deutscher und slowenischer Sprache. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, u. a in Salz, Reibeisen, Rastje, Brücke, literarische Welt, Nedelja, Mladika, Unke. 2021war sie für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert und 2023 Rohan-Stipendiatin in La Rochelle.

In Buchform sind von Gotthardt u. a. erschienen: der Erzählungsband »herausgehen« (Hermagoras 2018) sowie der slowenische Lyriktitel »Najdeni nič« (was »Gefundenes nichts« bedeutet, Mohorjeva založba 2013) und der deutschsprachige Gedichtband »lass mir die Ahnung von gestern« (Bibliothek der Provinz 2023).

www.VerenaGotthardt.com


Sophia Lunra Schnack (Foto: Walter Pobaschnig)

Zur Herausgeberin:
Sophia Lunra Schnack ist selbst Lyrikerin und zudem Prosaautorin, sie schreibt auf Deutsch und Französisch. Geboren wurde sie 1990 in Wien, wo sie derzeit auch lebt. Studium der Französischen, Italienischen und Deutschen Philologie in Wien, Mulhouse und Bologna. Bisher Veröffentlichungen u. a. in manuskripte, Poesiegalerie, Das Gedicht und Signaturen. Dazu erhielt Schnack 2022 den Rotahorn-Förderpreis.

Ihr Debütroman »feuchtes holz« ist 2023 erschienen, ihr erste Kurzprosasammlung folgte in diesem Jahr mit »Worte wie Mandelblüte« (beide bei Otto Müller). Derzeit arbeitet sie am zweisprachigen Lyrikzyklus »wimpern piniengrün – cils vert de pins«.

www.SophiaLunraSchnack.com



Alle bereits erschienenen Folgen von »Sinnliche Lyrik« finden Sie hier.



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