Wiedergelesen – Folge 18: »Grasmelodie« von Oda Schaefer

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Oda Schaefer war für mich bereits während meiner Gymnasial- und Studienzeit in den 60iger und 70iger Jahren kaum mehr als ein Name aus der Vergangenheit gewesen. Dass sie damals noch schrieb und mit ihren beiden Erinnerungsbänden »Auch wenn du träumst, gehen die Uhren« (1970) und »Die leuchtenden Feste über der Trauer« (1977) in den Feuilletons ein positives Echo fand, hat mich nicht mehr erreicht. Zu sehr gehörte die Autorin einer Epoche an, die gerade neu vermessen und dabei geistig aufgeräumt wurde. Beim Stöbern in meinen Lyrikbeständen ist mir dann vor kurzem – zu meiner eigenen Überraschung – der Gedichtband »Grasmelodie« in die Hand gefallen, der 1959 bei Piper erschienen war. Mit seinem eskapistischen Titel und dem unverbindlich-dekorativen Umschlag transportiert er die Realitätsferne der Nachkriegszeit, ihre zum Programm erhobene Abwehrhaltung gegenüber allem, das verstörende Kraft in der Erinnerung entfalten könnte. Stutzig gemacht hat mich auch, was der Verlag im unpaginierten Anhang des Buches als zeitgenössische Lyrik anpreist. Da wird von Stefan Andres der Band »Der Granatapfel« (Oden, Gedichte, Sonette), von Otto zur Linde eine Gedichtauswahl unter dem Titel »Charon« und von Hans Brandenburg das Buch »Trost in Tränen« angeboten. Das ist eine konventionelle, rückwärtsgewandte Liste, die so gar nichts reflektiert von der Kahlschlag-Literatur nach dem Krieg und ihrem Antipathos. Vielleicht, so regte sich mein Argwohn, passte Oda Schaefer nur zu gut in dieses Verlagsraster: eine auf sehr zeitgebundene Weise zeitlose Dichterin, die sich in die Innerlichkeit flüchtete und der herausfordernden Realität naturmagisch eingedunkelte Bilder vorzog.

Eine Überprüfung anhand des Gedichtbandes bestätigt diese Befürchtung – und widerlegt sie gleichzeitig. Denn bei der Lektüre mischt sich die Verwunderung, weil Form und Sprache oft wie gemeißelt erscheinen, mit der Bewunderung für jene Gedichte, in denen die Distanz in bekenntnishafte Radikalität umschlägt. Wie oft bei antiquarisch erworbenen Büchern fand ich in dem Band einen Zeitungsausriss (vermutlich aus der SZ vom 6.9.1988) mit einem Artikel von Franz Josef Görtz. Oda Schaefer, so heißt es in dem Nachruf auf die am 4. September verstorbene Dichterin, gehöre »einer Gruppe von Schriftstellern an, deren Romane, Erzählungen und Gedichte aus unserem Gesichtsfeld zu verschwinden drohen.« Diese Befürchtung hat sich inzwischen bewahrheitet. Oda Schaefer und ihr Werk tauchen allenfalls noch als Fußnoten zur Literaturgeschichte auf, wenn das Dritte Reich und die kulturelle Restauration in der Adenauerzeit behandelt werden. Dabei lässt sich die Autorin gar nicht so einfach einordnen, weder ihr Leben noch ihr literarisches Oeuvre, das in sich durchaus widersprüchlich ist. Die Autorin entstammte väterlicherseits einer baltischen Pastorenfamilie, während die Mutter aus dem estnischen Dorpat kam. Der erste Weltkrieg hat das Miteinander der Völker an der Ostsee, das in Jahrhunderten ganz selbstverständlich gewachsen schien, gründlich zerstört. Nach dem Selbstmord des Vaters absolvierte Oda Schaefer in Berlin eine private Kunstgewerbeschule und verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Entwurf von Tapeten und Stickmustern. Sie leidet unter großen materiellen Sorgen und wird lebenslang darunter leiden. Berlin, die pulsierende Hauptstadt, hält freilich auch viele künstlerischen Entwicklungschancen und Begegnungen für sie bereit. In zweiter Ehe mit dem Romancier und Lyriker Horst Lange verheiratet, nutzt Oda Schaefer schon bald das Modefeuilleton und den Hörfunk als Haupterwerbsquellen und schließt Freundschaft mit Autoren wie Günter Eich, Carl Zuckmayer, Kurt Krolow. Wolfgang Koeppen, Werner Bergengruen und Elisabeth Langgässer. Vor allem der Kreis um den Verleger Victor Otto Stomps, in dessen Rabenpresse 1939 auch ihr erster Lyrikband »Die Windharfe« erscheint, wird ihr zur geistigen Heimat in der faschistischen Repression. Später, während der ersten Nachkriegsjahre, unterstützt das Ehepaar Lange dann ein Meister der unterhaltenden Literatur, der schon zu Lebzeiten zu seinem eigenen Denkmal wurde: Erich Kästner.

Sowohl Oda Schaefer wie ihr Mann gehörten während des Dritten Reiches der Reichsschrifttumskammer an – eine zwingende Voraussetzung, um überhaupt publizistisch/literarisch tätig sein zu dürfen. Ihre Freundschaften und die künstlerischen Beziehungen deuten darauf hin, dass sie dem Regime kritisch gegenüber standen. Trotzdem scheue ich mich, auf ihr Werk den im Überfluss gebrauchten (und noch öfter missbrauchten) Begriff der Inneren Emigration anzuwenden. Die Beiden haben jedenfalls versucht, unter den Bedingungen der faschistischen Gleichschaltungspolitik weiterzuschreiben und dafür den Preis bezahlt, dass ihre damaligen Bücher heute merkwürdig zeitfern erscheinen, frei von gesellschaftlich-politischen Fragestellungen, stattdessen konzentriert auf das Individuum und dessen vermeintlich schicksalhaftes Leben. Das lässt sich auch noch Jahrzehnte später an den 48 Gedichten des Bandes »Grasmelodie« ablesen. Diese beziehen ihre Bilder vorwiegend aus der Welt der Antike, aus Sage und Mythos. Dabei scheint sich Oda Schaefer durchaus bewusst gewesen zu sein, dass solche stilistischen Konventionen die Gefahr der Erstarrung in sich bergen: »Ein Marmor steht tragisch im Heute verloren.« Bei aller Skepsis angesichts inhaltlicher und formaler Fluchtmechanismen kann sich der Leser aber nicht der Melancholie verschließen, der Schwermut, die zusammen mit der Vergänglichkeitsklage das eigentliche Signum der Gedichte ist. Hier, in den düstersten Momenten, erwächst daraus eine beklemmende Wahrhaftigkeit: wenn die Lyrikerin nach ihrem in Russland verschollenen Sohn ruft (»Wo bleibt dein Schrei?«) oder dem alkoholsüchtigen, kriegsversehrt heimgekehrten Mann schmerzgenaue und trotzdem liebevolle Verse widmet: »Nimm wieder Wohnung / Mitten in dir – IN DER MITTE.« Man merkt den Gedichten manchmal zu sehr an, dass sie schwer sind »vom Gelebten«. Doch das macht sie auch zu Lebenszeugnissen. Gleichzeitig finden sich viele Bilder, die im Leser weiterwirken: Salzburg, die »malvenfarbene Stadt«, wird nachts »in das chemische Bad / Aus Silber und Schwärze getaucht«. Und den »Süden« beschreiben vier Schlusszeilen, die alle vorhergehenden, ungleich schwächeren Bilder des Gedichts vergessen lassen: »Fledermaus schneidet den Himmel / In Stücke. / Unten wälzt sich schlaftrunken die Erde, / Schwarze Basalte.« Oda Schaefer, das soll am Ende dieses Hinweises auf eine inzwischen weithin aus dem Blickfeld geratene Autorin wenigstens erwähnt werden, ist nicht nur eine begabte, zuweilen virtuose Erzählerin und Lyrikerin gewesen, sondern auch eine Anthologistin, die aus der Fülle des Angelesenen und Selbsterlebten schöpfte. So setzte sie beispielsweise dem längst entschwundenen Schwabing ein literarisches Denkmal, schrieb über die Figur des Dandys oder versuchte deutsche Frauenlyrik seit 1900 vor dem Vergessen zu bewahren. Da hatte sie ein Gespür für ihre Zeit und die Bedürfnisse des Marktes, da war sie eine Sammlerin und Entdeckerin, eine Wegbereiterin (Frauenlyrik!) auch für spätere Autorinnen, die sich trauten, unangepasster als Oda Schaefer zu schreiben.

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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