Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.
Paul Konrad Kurz hat – literarisch gesehen – zeitlebens zu den Ausgegrenzten, den Randständigen gehört. Mag sein, dass dem Oberschwaben aus Schussenried das polemische Temperament, die Neigung zu heftiger Zeitkritik im Wege stand. Immer wieder degradierte sein messerscharfer Verstand die Bilder, die er in den Gedichten verwendete, zum Transportmittel einer zornigen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kirchlichen Fehlentwicklungen. Er war ganz gewiss ein intellektueller Hitzkopf, der erst im Alter ausgleichende, versöhnende Züge annahm. Manche verübelten dem leidenschaftlichen Jesuiten auch, dass er, der zeitlebens in seinem Denken und Fühlen ein Priester blieb, das Amt niederlegte, aus dem Orden austrat und heiratete. Andere sahen vermutlich genauso scharf wie er selbst sein Dilemma: Da begleitete Paul Konrad Kurz wie kein anderer die Literatur der sechziger, siebziger und achtziger Jahre als Chronist mit blitzgescheiten Rezensionen und Essays, versammelt in zehn Bänden, alle beim Verlag J. Knecht in Frankfurt erschienen. Und dieser Publizist, der nie seine christlichen Wurzeln verleugnete, trat gleichzeitig mit den Jahren immer entschiedener als Dichter hervor, den niemand, schon gar nicht die Großkritiker der Feuilletons, auf ihrer Liste hatten. »Manchen Menschen«, so schrieb er in der Nachbemerkung zum ersten Sammelband mit seiner Lyrik »Noch atmet die Erde« (Butzon & Bercker,1987), »erscheinen geistliche Verse suspekt, manchen geistlichen Menschen weltliche Verse.« Irgendwo dazwischen betrieb Paul Konrad Kurz seine lyrische Schreibwerkstatt, veröffentlichte in kurzen Abständen und in wechselnden Verlagen Gedichtbände, die nach seinem Tod im Jahr 2005 rasch von der Bildfläche verschwanden und seitdem, wenn überhaupt, nur antiquarisch erhältlich sind.
Es gibt noch einen anderen Schlüsselsatz in der gleichen Nachbemerkung, der seine poetologische Verfahrensweise charakterisiert: »Gedichte wollen erkennen.« In dem Band »Noch atmet die Erde« sind Gedichte vom Anfang der fünfziger bis zur Mitte der achtziger Jahre abgedruckt. Vieles davon nimmt Zeitstimmungen auf, zeigt den Lyriker als wachsamen Beobachter und zornigen Kritiker, der seine Gedichte bei den Friedenstagen der Evangelischen Akademie in Tutzing vorliest oder die veränderte Welt nach Tschernobyl reflektiert. Dominant ist die Dauerfehde mit der katholischen »Männerkirche«, der Kurz in trotzigem Widerspruch verbunden bleibt. Hierher gehört auch die »Anfrage an die christlichen Ränge«: »Wie viele / Atombomben / erlaubt / unser Vater im Himmel?« In der Zeit des Nato-Doppelbeschlusses beginnt er ein Gedicht mit den Zeilen »SIE DENKEN RAKETEN / Sie bauen Raketen / Sie drohen Raketen« und schließt das Gedicht mit der provozierenden Feststellung, die lange in mir nachgewirkt hat: »Was soll den Betern / gelingen solange / sie schweigen«. Solche Texte – nicht unähnlich den stärkeren, rigoroseren von Dorothee Sölle – klingen wie ein Echo zu uns herüber. Sie sind inhaltlich beileibe nicht erledigt, aber in der Form historisch geworden.
Doch das ist noch nicht das ganze Buch. Wer es durchblättert, stößt auch auf einprägsame, fast liedhafte Verse, die einen völlig anderen, empfindsamen Dichter zeigen, so in dem Gedicht »DEN BIRNBAUM BLÜHEN SEHEN«: »Vor dem Haus kein Asphalt / Hinter dem Haus kein Zaun / Aus keinem Fenster verkaufte Töne«. Wieder einen ganz anderen, mystisch aufgeladenen Ton schlägt der Pfingst-Text »Berühren« an: »Draußen / das wüsten- / getrocknete Wort / der wasser-geschliffene Stein / der hunger- / leuchtende Morgen«. Der Band »Noch atmet die Erde« enthält außerdem den Zyklus »Griechisches Licht«, wobei das Licht bei Kurz häufig eine religiöse Konnotation hat. In das Buch aufgenommen wurde auch der »Pyrmonter Gesang«, der schon 1981 im Freiburger F.H. Kerle Verlag, einem Herder-Ableger, erschienen war: als bibliophiler Druck mit fünf farbigen Holzschnitten von HAP Grieshaber. Der Zyklus in drei Teilen, dessen Titel aus einem Vers des türkischen Dichters Nazim Hikmet entlehnt ist, entstand während der Karwoche und der Osterwoche 1980. Er feiert, für einen geistzentrierten Menschen wie Paul Konrad Kurz überraschend, die Kraft der irdischen wie der göttlichen Liebe. Und noch erstaunlicher: Beide Formen der Liebe lassen sich in den Texten nur schwer, manchmal gar nicht voneinander trennen. Wenn das Werk des Dichters längst vergessen ist, dann bleiben hoffentlich noch diese Zeilen in Erinnerung: »EIN GEDICHT / ist ein Gedicht // ein Hemd oder / eine Wolke // wundertätig // nicht zu verhaften«.
Ich habe Paul Konrad Kurz einige Jahre begleiten und als Verleger den theologisch zwar unwahrscheinlichen, aber hinreißenden, weil hoffnungsstarken Erzähltext »Der Papst tanzt« (1999) und posthum noch die Kindergedichte »Gesang erfüllt die Luft« (2006) betreuen dürfen. Neben den späten Sammlungen »Der Fernnahe« (Grünewald 1994) und »Den Birnbaum blühen sehen« (EOS 2005) sind mir vor allem die hochformatigen Gedichtbände in Erinnerung geblieben, in denen Paul Konrad Kurz den Theologen mit dem Dichter zusammenführen und versöhnen wollte, so der Band »Ein großes Flügeldach« mit Engelgedichten, 1991 erschienen beim mutigen Toni Pongratz in Hauzenberg, außerdem die Advents- und Weihnachtsgedichte unter dem Titel »Das Bündel Gottes« (1994) und schließlich die »Osterpassion« (1995), beide im Schwaben Verlag. Die meisten dieser Gedichte sind szenisch aufgebaut oder tendieren zu Sprechrollen. Im Nachwort zur »Osterpassion« habe ich versucht, den poetischen Bühnenraum solcher Texte näher zu beschreiben, ihre Auseinandersetzung mit einer verfestigten Überlieferung, die konsequent aufgebrochen und hinterfragt wird. Paul Konrad Kurz wollte sich nicht nur hier der erstarrten Sakralität zugunsten einer unmittelbaren, erfahrungsintensiven Gläubigkeit entledigen. Vielleicht haben die Gedichte deshalb den Weg zurück in die Kirchen, wohin sie gehören, nie richtig gefunden. Das ist bedauerlich und das Ergebnis eines offenbar nicht aus der Welt zu schaffenden Missverständnisses: Viele theologische Verwalter des Glaubens scheint die Poesie nur zu stören. Aber ich will nicht mit einem negativen Befund aufhören, sondern mit einem Gedicht, in dem sich Paul Konrad Kurz schon 1981 ahnungsvoll selbst charakterisiert hat: »ÄLTER werden / es sich leisten konsequent / inkonsequent / zu den Verrückten gezählt / nicht mehr gezählt // zu werden«.
»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).
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