Wiedergelesen – Folge 28: Die Gedichte von Anna Jonas und ihr plötzliches Verstummen

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Anna Jonas hat ein sehr schmales Werk hinterlassen – zwei Gedichtbände und eine längere Erzählung, »Das Frettchen«, die sich im Untertitel als »Eine Biographie« ausgibt. Ansonsten findet man selbst im Internet, das sich erst nach der kurzen Schaffensphase der Schriftstellerin zwischen 1981 und 1985 zum literarischen Gedächtnis (nicht nur der Gegenwart) entwickelte, kaum noch Spuren von Anna Jonas. 1944 in Essen geboren, hatte sie wie so viele Zeitgenossen Politologie in Berlin studiert und später einige Jahre im langsam verdämmernden Franco-Spanien zugebracht. »Das Frettchen«, eine ins Surreale hochgestimmte Geschichte, berichtet davon. Der autobiographische Hintergrund des Textes ist dabei nur erahnbar; er versteckt sich in den Abgründen einer bewusst disparat, als Puzzle erzählten Überlebensgeschichte. Während ihrer poetischen Schaffenszeit hat Anna Jonas beim Literarischen Colloquium mitgewirkt und kurze Zeit im westdeutschen VS als dessen Vorsitzende, unterstützt von Günter Grass, heftige Kämpfe ausgefochten. Ihr turbulentes Scheitern im Verband nahm in den Feuilletons dieser Jahre viel Platz ein. Danach wird es still um sie. !987 folgt noch das Buch »Ich steh auf Berlin«, dann hört man nur noch wenig von Anna Jonas, die eine Tagungsstätte der Gewerkschaft leitet und gelegentlich als freie Journalistin tätig ist.

Der erste Gedichtband von Anna Jonas kam 1981 im Münchner Paul List Verlag heraus, in der Programmreihe »Poesie & Prosa«, die Hansjörg Graf redaktionell verantwortete. Der Leinenband enthält, auf 96 Seiten gestreckt, 44 Gedichte. Sein Umschlag erinnert in der kühlen druckgraphischen Strenge an die Bücher von Ilse Aichinger und war damals gestalterisch auf der Höhe der Zeit. Fast alle Texte des Bandes sind Sprechgedichte, die ihre Themen laut- und wortmalerisch umkreisen. Sie versuchen Begriffe einzufangen und scheitern daran geradezu lustvoll. Sybille Cramer erfand dafür den schönen Begriff des »poetischen Stühlerückens«. »Nichts mehr an seinem Platz«, so lautet der Titel des Buches, der dem Gedicht »Meine Insel« entstammt und durchaus wörtlich genommen werden muss, denn das gewollte Durcheinander der Bilder erweitert spielerisch die Möglichkeiten der Gedichte: Aus den wilden, oft schrägen Assoziationen entstehen neue Träume, neue Einsichten. Mit dieser Methode ist Anna Jonas ganz nahe beim modernen Kindergedicht. Tatsächlich mischte die Dichterin in ihre beiden Sammlungen immer wieder Gedichte, die sich dezidiert an Kinder wenden, zum Beispiel »Schmorbraten mit Mandolinen« oder »Zaunvögel« (»drei Schuhe saßen auf einem Zaun«). Es gibt bei Anna Jonas freilich auch ganz andere, eher resignative Tonlagen, etwa im »Laborbericht«: »Meine Seele ist / ein Loch zwischen Herz / Lunge und Magen«. Und das Gedicht »Letzten Winter fiel der Schnee« gehört, auch wenn es in keiner Anthologie zu finden ist, sicherlich zu den schönsten deutschen Jahreszeitengedichten: »Schnee verschloß mir den Mund / soweit mein Auge reichte / fiel Schnee / meine Augen sind voller Schnee / ich bin ganz still / im Schnee«. Von diesem Gedicht ist es nur eine kurze Wegstrecke bis zu jenen Texten, die den Tod thematisieren, unter ihnen besonders beeindruckend die »Ode«: Nach vielen, biographisch akzentuierten Einzelszenen der Begegnung mit dem Tod überrascht der lapidare Schlusssatz des Gedichts, der das Gesagte in ein ganz neues Licht stellt: »fast bedauere ich es / dich einmal zu verlieren«.

Der zweite und letzte Gedichtband von Anna Jonas erschien 1984 im Berliner Rotbuch Verlag, ebenso wie der im darauf folgenden Jahr herausgekommene Erzählband. Mein antiquarisch erworbenes Exemplar trägt den Vermerk »Fritz J. Raddatz«. Das Taschenbuch, betitelt »Sophie und andere Pausen«, hat die Struktur eines Schauspiels, mit einer akkuraten Akteinteilung (nur der dritte Akt des Fünfakters fehlt seltsamer Weise), außerdem mit Vor- und Nachspielen und sogar mit einem längeren Zwischenspiel, das eine kaum verschlüsselte Poetik entwirft. »Wer schreibt, kann Beliebigkeit in Sätze fassen«, heißt es hier und »Wörter sind Annäherungswerte.« Wieder begegnen den Lesern reizvoll-absurde Kindergedichte wie der »Daniel in der Löffelgrube« oder das »Lied für Beatriz und Daniel«: »das Haus steht in Flammen / das Boot wird uns rammen / der Vater soll kommen / er ist weggeschwommen«. Es gibt in diesem Band aber auch neue, vielleicht von Bertolt Brecht inspirierte sozialkritische Töne. Der lakonisch-ironische Stil des Gedichts »Käthe H. nimmt ihr Leben selbst in die Hand«, mit dem Anna Jonas die bittere Existenz einer Selbstmörderin beschreibt, deutet eine Entwicklung an, die die Autorin nicht mehr vollzogen hat. Ihr Abschied von der Literatur bleibt ein Rätsel, über das an dieser Stelle keine Mutmaßungen angestellt werden sollen.

 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »blues in der früh« (Ed. Toni Pongratz, Hauzenberg 2015).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert