Humor in der Lyrik – Folge 12: Christian Morgenstern (1871–1914): Allerlei Spiel- und Ernstzeug

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

»Ich definiere den Humor als die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkt des Unendlichen aus … Humor ist äußerste Freiheit des Geistes«. Das verstand Christian Morgenstern unter Humor.
 

Die Trichter

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
fließt weißes Mondlicht
still und heiter
auf ihren
Waldweg
u.s.
w.

 

Als Sonntagskind wird er in München geboren, doch seine Kindheit und Jugend ist überschattet von Krankheit und Tod. Als er zehn Jahre alt ist, stirbt die Mutter, die ihm ein Lungenleiden vererbt. Sein Vater, ein Landschaftsmaler, will seinen einzigen Sohn zum Offizier ausbilden lassen, weshalb er ihm nicht das Studium der Wirtschaftswissenschaften finanziert, das er wegen der beginnenden Tuberkulose ohnehin abbrechen muss. Zeitlebens langwierige Kuraufenthalte sind die Folge.

Jetzt lernt Morgenstern Norwegisch und betätigt sich als Übersetzer von Werken Henrik Ibsens, Bjørnstjerne Bjørnsons und Knut Hamsuns und verfasst als Journalist Kritiken in Kunstzeitschriften. 1895 erscheint sein erster Gedichtband, »In Phantas Schloss«, den er Friedrich Nietzsche widmete. Gemeinsam mit Freunden gründet er die Künstlergruppe »Galgenbrüder«. 1905 bringt Bruno Cassirer seine berühmten »Galgenlieder« heraus, Grotesken, angesiedelt zwischen Nonsens und virtuosem, hintersinnigem Sprachspiel.
 

Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wißt Ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinierte Tier
tat’s um des Reimes willen.
 

Solche Texte erregen Aufsehen. »Seine Verse sind die Heiterkeit an sich«, urteilt der Schriftsteller Albrecht Goes, »so wie gewisse Bilder des Malers Paul Klee nur eines sind: das Spielbild der Welt. Ob diese Morgensterniaden etwas wollen? Nein, sie wollen gar nichts. Ob sie etwas bewirken? O ja, und zwar eben dadurch, dass sie so gar nichts wollen.«

Trotz seiner Erkrankung, die ihn zunehmend plagt, verdanken wir diesem schelmischen Wortdrechsler einige der köstlichsten Werke deutscher Sprachkomik, bevölkert von kuriosen Wesen wie der »Mitternachtsmaus«, dem »Mondschaf« oder dem »Höllengaul«. Das »Große Lalulā« ist das erste reine Lautgedicht der deutschen Literatur.
 

Das Große Lalulã

Kroklokwafzi? Seemei!
Seiokrontro – prafriplo:
Bifzi, bafzi; hulalei;
quasti basti bo…
Lalu lalu lalu lalu la!
Hontraruru miromente
zasku zes rü rü?
Entepente, leiolente
klekwapufzi lü?
Lalu lalu lalu lala la!
Simarar kos malzipempu
silzuzankunkrei (;)!
Marjomar dos: Quempu Lempu
Siri Suri Sei []!
Lalu lalu lalu lalu la!
 

Und »Fisches Nachtgesang« – nach Morgenstern eigenem augenzwinkerndem Urteil »das tiefste deutsche Gedicht« –, ein Text ganz ohne Laute, ist stumm wie ein Fisch und besteht lediglich aus Längen- und Kürzezeichen.
 


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1910 erfindet Morgenstern die skurrile Figur des »Palmström«, die seine Gesichtszüge trägt.
 

Christian Morgenstern
Christian Morgenstern

Palmström legt des Nachts
sein Chronometer –
um sein lästig Ticken nicht zu hören,
in ein Glas mit Opium oder Äther.
Morgens ist die Uhr dann ganz `herunter´.
Ihren Geist von neuem zu beschwören,
wäscht er sie mit schwarzem Mokka munter.
 

Über Morgensterns komische Lyrik darf man nicht sein ernstes Wesen vergessen, das sich in Sammlungen wie »Melancholie« oder »Einkehr« oder in seinem aphoristischen »Tagebuch eines Mystikers« offenbart. In den letzten Lebensjahren wendet er sich Nietzsches Philosophie und Rudolf Steiners Lehre zu und lauscht interessiert den Vorträgen des Anthroposophen. Am 31. März 1914 stirbt der Klassiker der humoristischen Dichtung in Meran an Tuberkulose.

Seine skurril-fantastischen Gedichte überleben ihn. Nach Kurt Tucholsky Ansicht »kugelt sich« das Publikum »über Palmström, Korfen und Muhme Kinkel, daß es eine Art hat. Es ist aber auch zu hübsch: man lacht sich krumm, bewundert hinterher, ernster geworden, eine tiefe Lyrik, die nur im letzten Augenblick ins Spaßhafte abgedreht ist – und merkt zum Schluß, daß man einen philosophischen Satz gelernt hat. So kommt es, daß es uns gar nicht mehr wundert, in Morgenstern Kantsche Sätze in Gedichtform zu finden. Morgenstern ist einfach hinreißend. Man weiß zum Schluß nicht, was man mehr bewundern soll: die Clownerie oder die tiefe Weisheit.«
 

Es war einmal ein Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute daraus ein grosses Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,
ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri-od-Ameriko.
 

Bim, Bam, Bum

Ein Glockenton fliegt durch die Nacht,
als hätt er Vogelflügel,
er fliegt in römischer Kirchentracht
wohl über Tal und Hügel.
Er sucht die Glockentönin BIM,
die ihm vorausgeflogen;
d.h. die Sache ist sehr schlimm,
sie hat ihn nämlich betrogen.
»O komm«, so ruft er, »komm, dein BAM
erwartet dich voll Schmerzen.
Komm wieder, BIM, geliebtes Lamm,
dein BAM liebt dich von Herzen!«
Doch BIM, daß ihr’s nur alle wisst,
hat sich dem BUM ergeben;
der ist zwar auch ein guter Christ,
allein das ist es eben.
Der BAM fliegt weiter durch die Nacht
wohl über Wald und Lichtung.
Doch, ach, er fliegt umsonst! Das macht,
er fliegt in falscher Richtung.

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

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