Neugelesen – Folge 6: Franz Mon: »Unsere tägliche Kühlung vergib uns nie wieder«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 

Es ist heiß in Deutschland. Die Sonne brennt, sofern nicht gerade Hitzegewitter etwas Abküh-lung verschaffen, mancherorts aber auch Katastrophen hinterlassen. Nicht die rechten Tage, um in einer Bibliothek zu sitzen und zu stöbern. Doch ich nehm die Launen, wie sie kommen. Und so saß ich vor wenigen Tagen im Zeitschriftenlesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek und blätterte durch, was mir gerade ins Auge fiel. Als Ende 2017 eine Inventur im Anton G. Leitner Verlag nötig war, hatte ich unter anderem viele Jahrgänge der Zeitschrift »Sinn und Form» in den Händen, von der ich bis dahin schon viel gehört, sie jedoch nie gelesen hatte. Ihr erster Chefredakteur war der Lyriker Peter Huchel. Ein Grund mehr, dachte ich mir, als ich sie ein weiteres Mal in der Bibliothek sah. Willkürlich griff ich ein Exemplar aus dem Stapel, es war der fünfte Band des Jahres 1993. Neben vielen spannenden und kritischen Essays zu Kunst und Politik fand ich zu meiner Überraschung ein Gedicht von Franz Mon: »Unsere täg-liche Kühlung vergib uns nie wieder“.

Während ich schwitzend im Lesesaal saß, hatte mich der Titel sofort gepackt und gerne hätte ich ihm widersprochen. Noch bevor ich die drei Seiten Gedicht zu Ende gelesen hatte, war mir klar: Das Gedicht handelt nicht vom Wetter. Trotzdem war mir nicht ganz verständlich, wie ich den Inhalt wiedergeben sollte, würde ich danach gefragt. Eines würde ich festhalten: Es packt mich, es schnürt mich ein. Die Verse sind brisanter als nur ein noch so heißer Sommer-tag. Sie beschreiben die Scherzone zwischen einem deutschen Politikum und einer verödenden Gesellschaft. Es fallen geschickt verwebt einige Schlagworte, die langsam ein Bild entstehen lassen: Wolgaknie, Osten, Berchtesgaden, Gleiwitz, Bormann, Reichstag. Zwischen den Hauptwörtern brodeln Chemikalien: Zyankali im Goldzahn, Phosphor, Schwefel. In diesem Schmelztiegel finden sich Farben: Rosé, Rot, Blau, Grün. Es entsteht eine geradezu erdrü-ckende Atmosphäre: »es zuckt zwischen den rippen“.

Ich habe etwas gebraucht, bis ich die Verbindungen zum Kalten Krieg herstellen konnte, was wohl auch daran liegt, das Glück gehabt zu haben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren worden zu sein. Ich durfte ohne Kriegserfahrungen aufwachsen. Umso mehr gehöre ich zur richtigen Zielgruppe. Das Beklemmende in Franz Mons Gedicht ist ein Appell. Denn es ist heiß in Europa, mithin in der ganzen Welt. Und wenn wir nach Abkühlung verlangen, ist das mehr als zynisch; wenn wir abkühlen, ist das ein Untergang – unverzeihlich.

Mons Gedicht zeigt eindrucksvoll, welche Kraft sich in Versen entfalten kann. Die Atmosphä-re ist drückend – trotz der drei Seiten –, sie ist geradezu stickig. Es ist ein Gedicht für einen Regentag und gibt einem die Energie, sich selbst entgegen aller Missstände zum Leuchten zu bringen. Es ist aber keineswegs flache Politpropaganda sondern ein Kunstwerk mit all den Codierungen, die es dazu machen. Ich hoffe, es treibt die eine oder den anderen in die Biblio-thek zu Franz Mon, und direkt danach auf die Straße. Darum bespricht diese Folge nur ein einzelnes Gedicht, fällt etwas kürzer aus als sonst. Bei aller Liebe zur Kunst: Es gibt Dinge, die müssen in die Hand genommen werden, trotz Sommerloch und Fußball.
 

Franz Mon:
»Unsere tägliche Kühlung vergib uns nie wieder«
in: Kleinschmidt, S. (Hrsg.): Sinn und Form, 1993, Bd.5, Berlin: Rütten & Loening, S. 814-816.

 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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