Im babylonischen Süden der Lyrik – Folge 49: »›TUKOBA REVISITED‹: SIEBEN WORTE & ABHANGAS (UNPLUGGED) – EINE HOMMAGE«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

Hier

für Tukoba

sind die Worte die einzigen
Gemmen, Knospen,
Kleider
und Speisen plus Wasserkrug
wie Reichtum
für sich
allein,
für niemand,
allseits
für dich.

 

Tukoba lebte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Er wurde 1608 im westindischen Dehu in die obere Schicht der untersten Kaste der Shudras hineingeboren. Mit 13 Jahren begann er, als Landmann und Gemüsehändler zu arbeiten, bis er durch schwere Hungersnöte seine erste Frau und seinen ältesten Sohn verlor, nachdem bereits sein Vater und seine Mutter verstorben waren.

 

(Abhang 1)

Eine Tür ist kein Fenster.
Ein Fenster, keine Tür.
Das Wort kann Tür wie auch Fenster sein,
nach innen und zur Welt –
als Licht in einem Spiegel.
Sonsten blieben sie leer,
sagt Tukoba.

 

Nach der entwurzelnden Verwaisung krempelte sich sein tristes Dasein durch einen Traum innerhalb eines Traumes um, der ihm die hehre Aufgabe zusprach, ungeschaffene Gedichte zu schreiben. Tukoba ging in sich und widmete sich nach dem 21. Lebensjahr fortan der mystischen Poesie, die er auf Marathi verfasste und »Abhang« genannt wird. Also tingelte er durch die umliegenden Ortschaften und sang seine nach und nach neu komponierten Liedtexte, die sich wachsender Beliebtheit erfreuten.

 

(Abhang 2)

Die Zeit, bisweilen Stausee,
stehender Bach oder Lache.
Der Raum, irgendeine Gewitterfront,
Wirbelwind oder Überflutung.
Dazwischen sitzt hellwach die Mauereidechse,
doch sie weiß nicht, im gleichen Zeitraum,
ob sie Gehör finden wird, sagt Tukoba.

 

Die Brahmanen von Maharashtra, die sich als die einzigen Hüter der höheren Weisheiten verstanden, ächteten seine friedsame Kunst. Insbesondere der Brahmane Rameshwar von Vagholi wollte ihn zum Schweigen zwingen und verfügte, der Urheber selbst solle all seine Werke eigenhändig im Fluss Indrayani versenken. Nach dreizehn Tagen indes tauchte das Bündel Manuskripte undurchnässt an der Wasseroberfläche wieder auf und trudelte ans Flussufer, wo der Bhakti-Dichter und Kirtan-Sänger Tukoba auf einem Stein sitzend wartete. Seither mussten die Brahmanen sein poetisches Wirken anerkennen. Späterhin zog sich Meister Tukoba auf den Bhandara-Berg zurück. Mit gerade 41 Jahren kündigte er 1649 sein Lebensende an. Die Überlieferung besagt, dass er in einer Adlersänfte in die Umgebungen der Sonne aufstieg.

 

Tukoba, Coverzeichnung 1832
Tukoba (Coverzeichnung für eine Sammlung mit Handschriften des Autors, veröffentlicht 1832 von Varkari Haibatbaba Arphalkar)
Tukoba-Buchcover (Raja Ravi Varma Press vor 1945)
Tukoba-Buchcover (Bild von Anant Shivaji Desai, veröffentlicht in Raja Ravi Varma Press vor 1945)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tukoba auf dem Berg Bhandara (Zeichnung Nandalal Bose, 1945)
Tukoba auf dem Berg Bhandara (Zeichnung des indischen Künstlers Nandalal Bose aus dem Jahr 1945)
The Songs of Tukoba (Buchcover mit englischen Fassungen, Manohar, Delhi 2012)
The Songs of Tukoba (Buchcover mit englischen Fassungen von Gail Omvedt & Bharat Patankar, Manohar, Delhi 2012)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Abhang 3)

Ein Blickfaden
erkennt sich wieder im Gedicht,
Springquell der Sprache –
Wirklichkeit, die entspringt
im Wort eines waldigen Gewebes,
Lidschlag des Tigers und Karmesinnektarvogels
in Weiten der anfänglichen Stille, sagt Tukoba.

 

Die fließende Poesieform »Abhang«, auf Marathi gesprochen: »A-bhanga«, bedeutet ebenso »ununterbrochen«, »unendlich«, »ohne Grenze«, »ungebrochen« wie »ursprünglich« und besteht meist aus vier Dreizeilern zu je acht Silben mit vielfältigen Klangelementen wie Binnen- oder Endreim und chorischem Refrain zwischen den metrisch abgestimmten Versstrophen, die miteinander kombiniert werden können, eine bewegliche hinduistische Liedform der pilgernden Varkaris mit geschmeidiger Symmetrie und charakteristischer Schlusswendung, die im 13. Jahrhundert durch die Dichter Jnanadeva (1275 – 1296), genannt Mauli, und Namdev, Nam Deyv oder Namdeo (1207 – 1287) begründet wurde.

 

(Abhang 4)

Der Widerschein einer Landschaft verstreut sich durch sich selbst,
wogend im Funkensprühen der unermesslichen Luft,
unerträglich war schon die Nacht zwischen Bäumen im Gebirge,
jetzt kann ich den anderen Rand des Pfades auch nicht mehr sehen,
weder mit meinen offenen noch geschlossenen Augen, sicherlich
hat die glühende Sache Hand und Fuß, soweit ich weiß,
sogar eine innigere Stimme als der Horizont, sagt Tukoba.

 

Tukoba ist auch als Tukobaraya, Tukaram, Bhakta Tukaram, Sant Tukaram oder Tukaram Maharaj bekannt. 1873 erschien sein Werk mit 4.607 Gedichten in Mumbai und 1909 mit gesicherten 4.149 in Pune. Rabindranath Thakur bzw. Tagore übertrug zwölf seiner Lieder ins Bangla. Mahatma Ghandi las Tukoba, der ihm »sehr am Herzen« lag, und übersetzte 1930 im Yerwada-Gefängnis von Pune sechzehn »Abhangas« ins Gujarati und Englische.

 

(Abhang 5)

Ich weiche nicht einen Fußbreit zurück,
nicht hier, wo es nicht ein Wort zu viel gibt,
unverschlossen spreche ich von dem, was verschleiert ist,
keine Vergeudung von etwas, niemand erahnt es,
noch nicht, aber vielleicht dann, wenn sich mir später
der Monsunwald mit einem Streich lichtet, die Stunde des Wolkenbruchs naht,
meine Sandalen stammeln an sich ohne Sinn, sagt Tukoba.

 

In jüngster Zeit übertrug der Marathi-Dichter Dilip Chitre (1938 – 2009) eine gute Auswahl ins Englische unter dem Titel »Says Tuka« (Delhi, Penguin Books India, 1991; Mumbai, Poetrywala, 2013), woraus sowohl eine deutsche Fassung von Lothar Lutze, betitelt »Worte des Tukaram« (A1 Verlag, München 1999), als auch eine feine spanischsprachige Quintessenz der mexikanischen Lyrikerin Elsa Cross schöpften.

 

(Abhang 6)

Du bist talismanische Labsal, sesamsüß & tulsiherb,
alles, was eins ist – unter dem Blume des Universums,
wer das sagt, bin weder ich noch jemand anders,
also sag es mir invers: nichts, was nicht eins ist,
dass die Worte nicht in der Nähe oder Ferne verschwinden,
die Steine sich auch nicht an der Küste des Ozeans verlieren,
wer spricht, wenn ich in Bruchstücken schweigsam singe, sagt Tukoba.

 

Meine Hommage »Tukoba Revisited« folgt einer inneren »A-bhang«-Achse in sieben klanglich-rhythmisch freien Siebenzeilern. So möchte ich hier und jetzt an den fruchtbaren, vorzüglich poetologischen und bemerkenswert heutigen Liedkünstler von Dehu erinnern.

 

(Abhang 7)

Ja, ich bin gebürtig aus Dehu, die grünen Berge bieten mir Zuflucht
von Anbeginn der Gewässer des Flusses Indrayani mit seinen Fluten.
Ich brauche wenig, Herz und Hirn atmen Poesie, das genügt mir,
wann immer ich schreibe, vergesse ich, durstig zu sein, halte dabei inne,
halte mich zurück, hungrig zu sein, ernähre mich erst gegen Abend.
Eigentlich korrigiere ich stets, bis alle Worte miteinander verschmelzen
zu dem einen Wort – in sich selbst Quelle im Gegenlicht, sagt Tukoba.

 

Alle zitierten Texte: Vorabdruck aus dem Lyrikband »Die Elemente der See« von Tobias Burghardt, der im Herbst 2019 in der Edition Delta erscheinen wird.)

 

"Die Elemente der See" von Tobias Burghardt (Coverabbildung, Edition Delta)
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

 

 

 

 

 

 

 

»Tukoba Revisited« in: »Die Elemente der See« von Tobias Burghardt bei Edition Delta

 

 

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.

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