Der Poesie-Talk – Folge 14: Wenn Gedichte sprechen

Werk, Wirkung, Wirklichkeit: Am 22. jeden Monats unterhalten sich im losen Wechsel GEDICHT-Herausgeber Anton G. Leitner und die Bloggerin Franziska Röchter mit Schriftstellern und Literaturvermittlern über ihre Arbeit und ihr Leben.

 

Für die Dezemberausgabe des Poesie Talk zum Jahreswechsel 2019/2020 soll diesmal die Poesie, sollen Texte ganz für sich selbst bzw. für ihre AutorInnen sprechen. Sie möchten ins neue Jahr geleiten, und manchmal treffen ähnliche poetische Inhalte in sehr unterschiedlichen Gewändern zufällig aufeinander.

Klára Hůrková, Kolumnistin für dasgedichtblog (Deutsch-tschechischer Poesiedialog), verdichtet Wichtiges zum Jahresende folgendermaßen:

 

Für Weihnachten

Gedichte
sind Lichter
Lass Liebe
darin glänzen
Zünde Kerzen
für barfüßige Herzen[1]
und denke
ans Schenken

© Klára Hůrková

[1]Anspielung auf ein Gedicht von Jan Skácel.

 

Viel Liebe ist überhaupt das Stichwort für den Monat Dezember und grundsätzlich für das ganze Jahr, und die Liebe zu Mensch und zur Natur kann besonders in der Lyrik gut miteinander verschmelzen und Ausdruck finden, wie das folgende von Philipp Röchter vertonte und gesungene Gedicht von Franziska Röchter, ebenfalls Kolumnistin für dasgedichtblog (Poesie Talk), zeigen soll.

Philipp Röchter singt und spielt Franziska Röchter:
Lily of the Valley

 

Hand- und kniefeste Gründe, den Dezember mit seinen verunfallten Wetterlagen nicht zum Lieblingsmonat zu deklarieren, findet Hellmuth Opitz, Kolumnist für dasgedichtblog (Eingestreute Kritik), da eben zum Jahresende nicht nur der Verfall des Jahres sichtbar wird, sondern auch der Mensch sich seines eigenen Verschleißes besonders bewusst zu werden scheint:

 

Kannste knicken I-III

I.
Kannste knicken, das Licht an
diesem frühen Nachmittag im Advent,
ein Regenband schiebt sich vorwärts,
kurz bevor das Nieseln einsetzt,
fällt eine Gang von Kohlmeisen ein,
gefiederte Flummis, die hin und her
federn zwischen Buchenhecke und
Futterplatz. Dann sickert bereits die
Dämmerung durch, dagegen helfen nur
Kerzen in Fenstern und wie von weit
ein feines Schellengeläut, schon rauschen
sie heran, die Schlittenlieder des Pop,
dazu Punsch & Plätzchen, bis die Sinne
vernebeln. Auch das eine Nebenwirkung
des Breitbandtherapeutikums Gemütlichkeit,
wie sie knistert in der Blisterverpackung, nur
eine Kapsel und schon ist alles heiter-besinnlich.

II.
Kannste knicken, die Laune
des Türstehers, an Weihnachten schiebt er
Frust in der Frostluft da draußen, er hat
die Faxen bis hier, genau wie seine Tattoos,
ansonsten: Muskeln, rasierte Schläfen,
langer Pferdeschwanz und ja, den Witz
mit „und seine Frisur erst“ hat er schon
tausendmal gehört. Gerade jetzt lauscht
er ein paar Kläffern, jungen Rüden,
die lautstark die Frauen in der Schlange
taxieren und nach rüden Reimen für
„kannste knicken“ suchen. Sie tollen herum,
schwanzwedelnd, noch an der kleinsten
Wahrnehmung heben sie ihr Beinchen.
Der Türsteher zieht die Lefzen hoch: Junge
Rüden müssen heute leider draußen bleiben.

III.
Kannste knicken, die Knie
und das Knacken von Nacken und Rücken
wie Brennholz im Kamin, die Scheite des
Körpers und ihr krachendes Scheitern am
Schmerz. Draußen schüttet’s wie aus Kübeln,
es pisst mir in die Seele, sagst du, der Dezember
säuft, als müsse er die trockene Kehle eines ganzen
Jahres befeuchten. Überhaupt: dieses Jahr!
Hat es mich nicht Demut gelehrt, klagst du,
war’s nicht genug, muss es mich auch richtig
in die Knie zwingen? Selbst beim Blick auf die
knieenden Hirten an der Krippe kommst du
auf Krüppel und das Bitten und Flehen um
Schmerznachlass. Die Knie.
Das Knacken.
Das Klagen
in Endlosschleife. Darunter tust du es nicht.

 

© Hellmuth Opitz

 

 

Jan-Eike Hornauer, ebenfalls Kolumnist für dasgedichtblog (u.a. Gedichte mit Tradition), ist dem Dezember-Blues verfallen, hat aber sogleich schon die passende Strategie zur Überwindung desselben entwickelt:

 

Dezember-Blues
Bald geht nun das Jahr zu Ende;
ach, im Grund ist’s schon vorbei!
Nichts, was sich in ihm noch fände,
außer reichlich Heititei.

Zu Beginn wirkt’s endlos lange,
gleich darauf ist’s auch schon rum.
Wem wird da nicht manchmal bange,
wer wird da nicht manchmal stumm?

Was denn sollte einst nicht alles
dieses Jahr dir Großes bringen?
Die Erkenntnis, meisten Falles:
Allzu viel wird nie gelingen.

Aber man macht trotzdem weiter.
Auch weil’s neue Jahr schon naht.
Denkst du, lächelst, lächelst breiter,
bist gespannt, was dort dir harrt.

© Jan-Eike Hornauer

Jan-Eike Hornauer:
Dezember-Blues

 

Auch David Westphal, ebenso Kolumnist für dasgedichtblog (Neugelesen) und bekennender philosophischer Praktiker (www.erkenntnispraxis.de), scheint von der Zeit „zwischen den Jahren“ nicht nur angenehm berührt zu sein:

 

Zwischen
Zeit

Ge
Lang
Weilst
Du
Zwischen
Jahren
Trinkst
Und
Trinkst
Du
Nicht
Mehr
Heuer
Noch
Nicht
Neujahr
Seins
Vergessen
In
Vier
Tagen
Schufst
Du
Nichts

© David Westphal

 

David Westphal:
ZwischenZeit

 

Franziska Röchter schwört darauf, nicht nur in Zusammenhang mit zu viel Weihnachtstrubel und negativem Geschenkestress grundsätzlich einen (oder mehrere) Gänge herunterzuschalten und in der „dunklen Jahreszeit“ dem eigenen Schlafbedürfnis zu folgen.

Franziska Röchter:
Entschleunigung

 

Und einen guten Tipp für alle AutorInnen und solche, die es werden wollen, hat Klára Hůrková mit Blick auf das kommende Jahr 2020 parat:

 

Für das neue Jahr

Nicht mehr warten
auf vorbeistreunende Worte
Augenblicke
ganz hereinlassen
sie erfassen
in Worte umwandeln
die mit uns kommen

© Klára Hůrková

 

In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern von dasgedichtblog viele begleitende Worte für das neue Jahr und dass sie auch 2020 weiterhin „mit uns kommen“ und uns gewogen bleiben.

 

© Franziska Röchter für dasgedichtblog 12/19

 

 

 

Die Rubrik »Der Poesie-Talk« wurde in Zusammenarbeit mit Timo Brandt gegründet, der die ersten fünf Folgen betreute. Alle bereits erschienenen Folgen von »Der Poesie-Talk« finden Sie hier.

 

Franziska Röchter

Franziska Röchter, (*1959), kam als Österreicherin auf die Welt und lebt derzeit mit deutscher Staatszugehörigkeit in Verl. Sie schreibt seit vielen Jahren Lyrik, Prosa, kulturjournalistische Beiträge, Rezensionen und mehr. Jahrelang verfasste sie für den mittlerweile eingestellten bekannten Blog der Poetryslamszene, Myslam, Beiträge, Rezensionen, Interviews und trat etliche Jahre (erstmalig mit 50) als Poetry Slammerin in Erscheinung. Sie organisiert(e) Lesungsveranstaltungen in Gütersloh und Bielefeld und betreibt seit 2011 den chiliverlag.
Franziska Röchter war mehrmals Jubiläumsbloggerin für die Zeitschrift DAS GEDICHT (2012 und 2017), führte Interviews und schrieb Features über annähernd 100 bekannte Persönlichkeiten der Literaturszene.
1. Preis Hochstadter Stier (jetzt: Lyrikstier) 2011, seit 2015 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. mit Sitz in Leipzig, Mitglied im VS NRW.
Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig in bekannten Literaturorganen wie DAS GEDICHT (Anton G. Leitner), in Vers_netze (Axel Kutsch), im Poesiealbum neu (Ralph Grüneberger), bis zu seiner Einstellung (2014) in Der Deutsche Lyrikkalender (Shafiq Naz) vertreten. Unzählige Veröffentlichungen in anderen Printmedien, Anthologien, Zeitschriften (u.a. bei dtv, in Flandziu, Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, in Signum, Blätter für Literatur und Kritik u.v.m.). Etliche eigenständige Veröffentlichungen (Bücher, CDs), zuletzt das Projekt Fernreise. Philipp Röchter singt und spielt Gedichte von Franziska Röchter, 2017. Darüber hinaus ist Franziska Röchter Rundum-Betreuerin ihrer stark pflegebedürftigen Tochter.

© Franziska Röchter, 12/2018

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