Der Poesie-Talk – Folge 23: Franziska Röchter im Gespräch mit Anton G. Leitner zu seinem 60. Geburtstag

Werk, Wirkung, Wirklichkeit: Am 22. fast jeden Monats unterhält sich die Dichterin, Herausgeberin und (Klein-)Verlegerin Franziska Röchter mit Schriftstellern, Literaturvermittlern und Buchmenschen über ihre Arbeit und ihr Leben. Aus ganz besonderem Anlass erscheint diese Folge bereits heute, am 16. Juni. – Herzlichen Glückwunsch, lieber Anton G. Leitner, zum runden Geburtstag, und noch viele weitere Jahre voller Gesundheit und Schaffenskraft im Dienst der Poesie! – Hier das große Jubiläumsinterview:

 

Anton G. Leitner im Jahr 2021, Foto: Peter Boerboom

Lieber Anton, dein diesjähriger runder Geburtstag eignet sich einmal mehr, Stationen deines Lebens Revue passieren zu lassen. Zunächst fällt auf: Das Datum deiner Geburt mutet von den Ziffern her nahezu diabolisch an. Ruft der 16.6.61 nicht Zahlenmystiker und Numerologen auf den Plan?

Wenn ich jetzt auch noch Otto Renner hieße, dann könnte man meine wichtigsten Daten eins zu eins vorwärts oder rückwärts lesen. Apropos diabolisch: Zum 18. Geburtstag haben mir meine Eltern ein Mini-Teufelchen aus Gold anfertigen lassen, das ich mir ans Revers heften kann. Ich war als Kind und Jugendlicher ja, vorsichtig formuliert, ein Lausbub. Insofern hatte das Teufelchen schon auch seine Bedeutung.
Als junger Dichter war ich einmal zu einem Künstlergespräch beim damaligen Münchner Kardinal Friedrich Wetter eingeladen. Bei dieser Begegnung fragte er mich, ob ich ein goldenes Kreuz an meinem Sakko tragen würde. Diese Verwechslung aufgrund seiner leichten Kurzsichtigkeit hat mich damals innerlich sehr erheitert.
Ich selbst bin im Übrigen nur wenig abergläubisch. Insofern spielt die Tatsache, dass der 16. Juni in Irland der feuchtfröhlich gefeierte Bloomsday nach „Ulysses“ von James Joyce ist, für mich eine wesentlich größere Rolle als zahlenmystische Erwägungen, und das obwohl ich selbst fast keinen Alkohol trinke.

 

Nicht zufällig erschien zeitnah zu deinem Jubiläum dein neuer zweisprachiger Band „Wadlbeissn“. Optisch wirkt er wie ein jüngerer Bruder von deinem Mundartband „Schnablgwax – Bairisches Verskabarett“, der 2016 parallel in der edition lichtung und in der edition DAS GEDICHT erschien. Inhaltlich ist er laut Paul-Henri Campbell eine „Erweiterung der Klaviatur des poetisch Möglichen“; vom „Gipfel der subversiven Mundartdichtung“ ist im Klappentext die Rede, Fitzgerald Kusz spricht in seinem Geleitwort von „Mundartlyrik ohne Heimattümelei“. „Zupackende Verse“ (Untertitel) sind bei dir ja nicht selten auch etwas Doppeldeutiges, wenn man z. B. an das Gedicht „A wuida Brumma“ / „Eine Wuchtbrumme“ denkt. Worin besteht für dich der Reiz an der gepflegten Provokation?

In vielen meiner Gedichte steckt ein wahrer Kern. Die Realität dient mir als Schablone, um mein Lebensumfeld zu dokumentieren, aber auch poetisch zu kommentieren. Im Wesen eines echten Bayern sind Frotzeleien und Aussingen der Obrigkeit als ur-anarchische Elemente angelegt, weshalb Provozieren im Sinne von „Hochschießen“ einfach dazugehört. Auch das zupackende Deftige spielt im Bairischen eine große Rolle, was man auch schon an den Werken und Editionen von historischen bairischen Versreportern wie dem Queri Georg ablesen kann, der übrigens ganz in meiner Nähe lebte. Er geriet immer wieder in Konflikte mit einer beleidigt und prüde reagierenden bayerischen Justiz und ebensolchen Politik. Man arbeitete sich etwa an seiner wunderbaren Sammlung „Bauernerotik und Bauernfehme“ ab – und ganz besonders auch an „Kraftbayrisch“, seinem 1912 erschienenen „Wörterbuch der erotischen und skatologischen Redensarten der Altbayern“. Der Queri Giagl wurde immer wieder Opfer von Zensur, ihm drohte gar ein Berufsverbot. Nur durch wohlwollende Gutachten von Ludwig Thoma oder Ludwig Ganghofer konnte verhindert werden, dass er gar ins Gefängnis kam.
Aber wir brauchen gar nicht so weit zurückgehen. Bis heute bellen die getroffenen Hunde. Als ein bayerischer Kunstminister vor etlichen Jahren im Rundfunk öffentlich gegen mich auf bizarre Weise zu wettern begann, wusste ich, dass meine Provokationen genau dort angekommen waren, wo sie auch hinzielten.

 

Der Dichter mit seinem neuen Soloband, Foto: Peter Boerboom

„Zupackend“ meint bei dir nicht nur das Haptische in allen Liebeslagen, sondern vor allem auch: die Dinge beim Namen nennen, den Finger in die Wunde legen. Ein „Wadlbeisser“ ist ja ein besonders hartnäckiger Mensch. Du sezierst in deinem neuen Buch u. a. auch ausgiebig die Marotten von Helikoptereltern – köstlich: den Nachwuchs mit dem SUV 200 Meter zur Schule kutschieren –, die du als „Eltern der Generation Ich-Ich-Ich“ bezeichnest. Wie war es bei dir in der Kindheit: Wurdest du als Einzelkind mit gewissen gesundheitlichen Besonderheiten auch besonders behütet, oder hat man dich auch mal bewusst die Knie aufschlagen lassen? Schließlich ist das erste von drei Kapiteln m. E. ja durch die Betitelung „Des wead scho, Bua“ wohl auch deiner Mutter bzw. deinen Eltern gewidmet?

Meine Geburt erfolgte am 16. Juni 1961 unter dramatischen Umständen. Ich sollte erst einen Monat später, am 16. Juli 1961, auf die Welt kommen. Meine Mutter erkrankte schwer unmittelbar nach meiner Geburt, war nahe am Tod, hatte als sehr junge Frau bereits die Krankensalbung erhalten, so dass ich mein erstes Lebensjahr bei meinen Großeltern Käte und Josef Wölpl in München verbrachte. Mein Vater studierte noch Altphilologie und war überdies mit seiner schwerkranken Ehefrau beschäftigt. Mutter lernte ich quasi erst mit einem Jahr kennen, sie hatte Gott sei Dank ihre Krankheit überstanden, und natürlich wurde ich von ihr, meiner Großmutter und meiner geliebten Urgroßmutter Christine Nemetz als Kind überaus gut versorgt und behütet. Aber meine Eltern achteten schon sehr früh darauf, mich mit anderen Kindern aufwachsen zu lassen. Bei uns waren immer Spielkameraden im Haus. Mein Cousin Peter Wölpl, Gitarrist und heute Professor an der Deutschen Popakademie in Mannheim, ist ebenfalls ein Einzelkind. Diese Tatsache nutzten unsere Eltern, um uns so viel wie möglich zusammenzubringen. Peter wuchs in der Stadt auf, ich auf dem Dorf, in Weßling; so lernte Peter sehr früh das Land kennen und ich als Landei die Stadt, was uns beiden sehr gutgetan hat. Peter lernte, dass ein Bernhardiner keine Kuh ist, und ich, dass ein Gelenkbus kein Dinosaurier ist.
„Des wead scho, Bua“ war ein Lieblingssatz meines Vaters, der für mich nicht immer tröstlich war, sondern oft auch nur beschönigend – und der mit meiner Realität nicht viel zu tun hatte, jedenfalls empfand ich es damals so. Insofern tauchen in dem von dir bezeichneten Kapitel tatsächlich sehr intensiv meine Eltern auf, aber auch meine ersten großen Lieben im Leben kommen ausführlich vor.

Deine Eltern feierten im Januar 2021 Diamantene Hochzeit, sie waren also 60 Jahre verheiratet, das heißt, du hattest für heutige Verhältnisse unglaublich junge Eltern?

In der Tat waren meine beiden Eltern damals noch nicht volljährig, als sie mich bekamen. Die Volljährigkeit wurde seinerzeit mit Vollendung des 21. Lebensjahres erlangt. Erst ab 1. Januar 1975 wurde die Grenze für die Volljährigkeit auf das vollendete 18. Lebensjahr heruntergesetzt. Erschwerend zu ihrer Jugend kam hinzu, dass meine Mutter evangelisch, mein Vater katholisch war und meine Leitner-Großmutter streng katholisch. Das führte dazu, dass meine Mutter zum Katholizismus konvertieren musste, weil sie wohl sonst nicht meinen Vater hätte heiraten können. Eigentlich unvorstellbar aus heutiger Perspektive.

2021, Diamantene Hochzeit Anton und Ingrid Leitner, Foto: Anton G. Leitner

Wenn wir uns über andere Völker erheben wegen der angeblichen Rückständigkeit ihrer Religionen erheben wie den Islam, sollten wir die jüngere Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht nicht vergessen. Da tobten wahre Religionskriege in den Familien, was oftmals ganze Tragödien nach sich zog, übrigens in beiden großen christlichen Kirchen, denn auch unter Protestanten gibt es Fundamentalisten, sie nennen sich Pietisten. Ich führte einmal als Schüler Regie in einer evangelischen Jugend-Theatergruppe, was Proteste von Eltern nach sich zog, weil ein Katholik unter Evangelen eine Leitungsfunktion innehatte. Das Ganze liegt maximal 45 Jahre zurück.

 

Die alten Sprachen wie Latein oder Griechisch bildeten bei meinem Vater den Grundstock für die fließende Beherrschung neuer Sprachen wie Italienisch oder Spanisch.

Nun hast du ja – nach zwei gesundheitlich sehr schwierigen Jahren – gerade einen weiteren persönlichen Schicksalsschlag erlebt. Auch wenn dein Vater dich vielleicht lieber in einer juristischen Beamtenstelle versorgt gesehen hätte, legte er nicht sogar selbst den Grundstein für deine eigentliche Berufung? Was ist das Wichtigste, das er dir mit auf den Weg gegeben hat?

Der plötzliche Tod meines Vaters am 3. Mai 2021 war ein Schock für uns. Ich hatte innerlich gehofft, nicht auch noch während der Coronakrise einen nahen Angehörigen zu verlieren, denn unter Lockdown-Bedingungen in einer Klinik sein zu müssen, sei es als Patient, sei es als Angehöriger, kratzt erheblich an der Menschenwürde und anderen in unserem Grundgesetz verankerten Grundrechten. Teilweise wurden nahezu unüberbrückbare Hürden aufgebaut, die verhinderten, dass selbst todkranke Menschen in ihren letzten Stunden noch Besuche erhalten konnten. Mein Vater war gestürzt und kam zunächst in eine chirurgische Klinik. Dort konzentrierte man sich ganz auf eine schwere Prellung. Wenn wir ihn in dieser Klinik hätten besuchen dürfen, wäre uns, die wir ihn gut kannten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgefallen, dass er zwischenzeitlich auch noch einen Schlaganfall erlitten hatte. Letztendlich wurde auch er mittelbar zu einem Opfer der Coronakrise, denn als er einige Tage später, im zweiten Anlauf, mit dem Rettungsdienst in eine internistische Klinik eingeliefert wurde, war es bereits zu spät.
Vater hat mich sehr geprägt: Er war durch und durch ein Sprachenmensch. Die alten Sprachen, wie Latein oder Altgriechisch, bildeten bei ihm den Grundstock für die fließende Beherrschung neuer Sprachen wie Italienisch oder Spanisch. Im ganzen Elternhaus liegen bis heute auf fast jedem Tisch mehrere Fremdsprachenlexika, er las internationale Zeitungen im Original und natürlich auch Originalliteratur. So legte er mir als Siebzehnjährigem die „Die späten Gedichte“ von Giuseppe Ungaretti in einer zweisprachigen Ausgabe unter den Weihnachtsbaum und entfachte dadurch in mir die große Liebe zur Poesie. Ich glaube nicht, dass ihm wichtig war, ob ich meinen erlernten Juristenberuf ausübe oder nicht. Er hätte sich für mich die Sicherheit einer Beamtenversorgung gewünscht und angesichts meiner schweren Erkrankungen war dieser Wunsch von ihm auch nicht ganz verkehrt. Allerdings lassen sich mein Temperament und meine Freiheitsliebe nicht in das Korsett eines auf Über- und Unterordnung basierenden Berufsbeamtendaseins zwingen. Das ist mir als Rechtsreferendar endgültig klar geworden.
Aber auch in anderer Hinsicht hat mich mein Vater mitgeprägt: Er war ein sehr kommunikativer Menschenfreund und großer Netzwerker. Kommunikation ist auch für mich entscheidend, und ich liebe die deutsche und lateinische Sprache, vor allem die Dichtung. Insofern habe ich meinem Vater verdammt viel zu verdanken, auch wenn er für mich nicht immer die Geduld aufbringen konnte, die er seinen Schülerinnen und Schülern entgegenbrachte.

 

Dein Vater hat sich einen Namen in der Bildungskultur gemacht und hier große Spuren hinterlassen. Nun kennt ja fast jeder das Sprichwort „Lehrers Kinder und Müllers Vieh gedeihen selten oder nie.“ So ganz kann das aber nicht stimmen. Spaß beiseite: Hattest du einen strengen Vater?

Mein Vater war tatsächlich über die bayerischen Landesgrenzen hinaus als liberaler Pädagoge bekannt. Er hatte mit dem Carl-Spitzweg-Gymnasium in Unterpfaffenhofen-Germering seine eigene Schule gegründet und leitete diese fast ein Vierteljahrhundert lang nach seinen Vorstellungen. Die Türen zum Direktorat standen unter seiner Ägide allen Schülerinnen und Schüler stets offen. Sie haben ihn bis heute in bester Erinnerung behalten. Das zeigt sich auch daran, dass uns nach seinem Tod körbeweise lange Kondolenzbriefe von seinen ehemaligen Schützlingen erreichten. Sie würdigten seinen Einsatz. Der Preis dafür war allerdings hoch für unsere Familie: Mein Vater kam immer vollkommen erschöpft aus der Arbeit nach Hause. Da hatte er dann nicht mehr viel Energie und Nerven für meine Probleme. Zu mir war er nicht immer so liberal wie zu seinen Schülern. Er war streng, allerdings, als Altphilologe, auch überhaupt nicht prüde, weshalb es für mich nie ein Problem war, als Jugendlicher Mädchen zu empfangen und auch bei uns übernachten zu lassen.

2018, Anton Leitner sen., Foto: Anton G. Leitner

Mein Vater war durch und durch ein „zoon politikon“, also ein Gemeinschaftswesen im Sinne des Aristoteles.

Dein Vater gilt als großer Philanthrop und stets gut gelaunter Mensch. Er wird beschrieben als „Ein Mann und Mensch mit großem Herz“, als „Leuchtturm“ und als jemand, dem die Herzensbildung jenseits strikter Regelkonformität immer besonders wichtig war. Wie sehr hat er am Schluss unter den Auswirkungen und Auflagen der Corona-Pandemie gelitten?

Unter den Auflagen der Corona-Pandemie hat er gelitten wie ein Hund. Er war durch und durch ein „zoon politikon“, also ein Gemeinschaftswesen im Sinne des Aristoteles. Ihn hat es zu Menschen hingezogen, er wollte und musste mit ihnen kommunizieren und sie mit Rat und Tat unterstützen. Das war über ein Jahr lang für ihn quasi nicht mehr möglich. Selbst seine Lateinnachhilfen konnte er nur noch eingeschränkt geben, nämlich telefonisch. Ihm hat der unmittelbare Kontakt zu den Kindern sehr gefehlt. Er zog sich immer öfters in sein Zimmer zurück. Dass er hinter sich die Türe schloss, war neu, das hat er sonst nie getan. Er war der ja berühmt für seine Politik der offenen Tür. Er hatte, wie gesagt, immer ein offenes Ohr für die Belange anderer.

 

Ich mag Krimis sehr.

Es ist sehr schade, dass dein Vater dein neues Buch nicht mehr in den Händen halten konnte. In der Buchbeschreibung heißt es über dich als Autor: „Seine minutiöse Beobachtungsgabe, der auch nicht das kleinste Detail entgeht, macht Leitner gleichsam zu einem investigativen Vers-Reporter mit kabarettistischem Biss und hohem Unterhaltungswert.“ Bist du Krimi-Fan? Wären Kriminalbeamter oder Journalist Berufsoptionen für dich gewesen?

Vater hatte Vorabexemplare von meinem neuen Buch „Wadlbeissn“ noch gesehen und auch Ärzten davon erzählt, dass es der Bayerische Rundfunk zum „Buch-Favorit“ der Kulturwelle Bayern 2 küren wollte. Da war er stolz darauf.
Ich mag Krimis sehr, bin ein Fan vor allem der schwedischen Kriminalromane, allen voran gefällt mir die Figur des fehlbaren Kommissars Wallander von Henning Mankell, der ja bei dtv ein Verlagskollege von mir war und den ich auch einmal persönlich auf der Frankfurter Buchmesse am Stand von dtv erleben durfte.
Während meines juristischen Referendariats arbeitete ich auch längere Zeit für die Staatsanwaltschaft. Da hatte ich mit Polizeibeamten zu tun, die ja die „Hilfsorgane“ der Staatsanwaltschaft sind. Im realen Leben hätte ich nicht immer mit ihnen tauschen wollen.

 

Einen wichtigen Beitrag zum Überleben einer gefährdeten Sprache leisten

Du hast nach rund 30 Jahren ausgeübter Dichtkunst im Hochdeutschen vor etlichen Jahren die Sprachkraft des Bairischen wiederentdeckt. Bairisch gehört ja – zumindest vor rund 10 Jahren war das noch so – (zusammen mit ca. 2.500 Weltsprachen) zu den bedrohten Dialekten, die bayerische Sprache wurde vor über 10 Jahren auf Vorschlag der UNESCO auf die Liste der gefährdeten Mundarten gesetzt. Siehst du hier deinen persönlichen Auftrag, Abhilfe zu schaffen?

Genau über diese Frage habe ich mich erst vor wenigen Tagen mit einem jungen Journalisten von Deutschlandfunk Kultur unterhalten, der nicht begreifen konnte, dass ich für die akribische Verschriftlichung der bairischen Sprache keinerlei Unterstützung von den Kultusbehörden des Freistaates Bayern bekomme. Seiner Meinung nach leiste ich wegen der systematischen Verschriftlichung des Bairischen tatsächlich einen wichtigen Beitrag zum Überleben einer gefährdeten Sprache. Dass ausgerechnet eine Regierungspartei wie die CSU, die ja seit jeher versucht, sich mit Bayern gleichzusetzen, nicht auf die Idee kommt, an solche Initiativen anzuknüpfen, ist tatsächlich erstaunlich, aber vermutlich liegt es an der Widerborstigkeit der aufgegriffenen Themen im „Wadlbeissn“ und im Vorgängerband „Schnablgwax“. Die Bände zeichnen insgesamt eher ein kritisches Bild der Lebenswirklichkeit im weiß-blauen Freistaat als dass sie ein pastellfarbenes Wellnessaquarell mit röhrendem Hirsch vor alpiner Kulisse malen.

 

Offenkundig kann man im Bairischen – auch im Gedicht – Dinge formulieren, die man auf Hochdeutsch nicht unbedingt sagen würde. So heißt der Dreizeiler „In die Jahre gekommener Onanist“ bei dir in der bairischen Version „Oida Wixa“. Ein deutscher Text mit dem Titel „Alter Wixer“ wirkt vielleicht nicht mehr unbedingt amüsierend, humorvoll, schräg, sondern eher leicht geschmacklos. Wie kann man sich erklären, dass das Bairische – wie auch manch andere Dialektsprache – mehr darf? Ist Bairisch durch seine besondere Phonetik und Phonologie von Natur aus „lustiger“? Werden Dialektsprachen bereits im Ansatz verharmlost, nicht so ernst genommen?

Ein Dialekt wird ja eher gesprochen und seltener in schriftlicher Form verwendet. Beim Sprechen geht’s sicherlich meist kerniger zur Sache als in einem Geschäftsbrief, in dem man jedes Wort auf die Goldwaage legt. Das Bairische ist in gewisser Weise wahrhaftiger als das Hochdeutsche, in dem oftmals Unschönes schön umschrieben wird, wobei ich beide Sprachen nicht gegeneinander ausspielen will, im Gegenteil: Beide haben ihren großen Reiz. Aber das Bairische klingt besser, es ist musikalischer, und zur Beschreibung komplexerer Sachverhalte benötigt man im Dialekt erstaunlicherweise meist deutlich weniger Worte als in einer Amtssprache. Man kann im Dialekt halt leichter eine Sauerei auf fast charmante Art sagen oder singen. Beim Niederschreiben expliziter Inhalte in einer Hochsprache ist die Wirkung viel härter und verletzender, weil alles gleich ganz offiziell und amtlich wirkt, während die Verschriftlichung provokanter Themen im Dialekt durch die Nähe zur Alltagssprache mehr Raum für schonungslose Offenheit schafft.
Die Tradition des Aussingens und der sogenannten Schnaderhüpferl oder der im Wirtshaus gesungenen Zecher- oder Lumpenlieder ist typisch für Altbayern, die Texte fallen meist sehr deftig aus, worin sie sich übrigens mit den „Carmina Burana“ treffen, dem lateinischen Liedgut der ziehenden Studentenschaft und Scholaren. Die „Carmina Burana“ sind ja in gewisser Weise auch eine Wiege für die ersten, späteren Gedichte in mittelhochdeutscher Sprache.
Dass Dialektsprachen nicht immer ernst genommen werden, liegt auch daran, dass Dialektdichtung teilweise in Deutschland vom offiziellen, subventionierten Literaturbetrieb in die Unterhaltungs- oder Dilettantenecke verbannt wird, so dass sich hierzulande eher begabte Sänger und Kabarettisten ambitioniert damit beschäftigen. Viele begabte Dichter hingegen haben wahrscheinlich eine gewisse Angst, durch Dialekteinsatz in der Lyrik ihren Ruf zu beschädigen.
Ganz anders schaut es übrigens in Österreich aus, wo große Dichter wie H. C. Artmann („med ana schwoazzn dintn“) oder Ernst Jandl ganz selbstverständlich auch Dialektgedichte neben ihre hochdeutsche Produktion gestellt haben. Und Dichter wie Franzobel oder Manfred Chobot legen dort bis heute grandiose Mundartgedichte vor.
Im Freistaat Bayern hingegen trägt man offensichtlich Scheuklappen und übersieht seit Jahren den großartigen fränkischen Mundartdichter Fitzgerald Kusz bei der Vergabe des Jean-Paul-Preises. Dabei gehört Kusz unzweifelhaft zu den besten literarischen Köpfen des Landes.

 

Leicht zeitversetzt bis parallel zu dieser Erweiterung im Ausdruck erfolgte auch eine bemerkenswerte äußerliche Veränderung des Dichters Anton G. Leitner, die etwas vom Schlüpfen einer Schmetterlingslarve hatte: Ein gänzlich neuer oder wiedergeborener Dichter kam zum Vorschein, und wenn man deine Jugendfotos so anschaut, eigentlich doch genau der alte. Die Problematik vom „schwea“ sein bedichtest du ja gleich eingangs im Gedicht „Fliegen lernen“. Glaubst du, dass diese beiden Metamorphosen, die sprachliche und die optische, in einem (un-)bewussten Zusammenhang stehen?

Ich war tatsächlich ein eher zartes und schmächtiges Kind. Im Laufe stressintensiver Arbeitsjahre hatte ich mich dann viel zu wenig bewegt und deutlich an Gewicht zugenommen, so dass ich von der Statur her eher dem Klischee des gestandenen Mundartdichters entsprach als heute. Bei Erscheinen meines ersten Mundartbandes „Schnablgwax“ im Jahr 2016 hatte ich mit ca. 89 kg das höchste Körpergewicht meines Lebens erreicht. Aber durch schwere Erkrankungen in den Jahren 2018 und 2019 nahm ich über 25 kg ab, teilweise direkt wegen der Erkrankungen, teilweise auch geplant im Anschluss, weil ich nicht ein drittes Mal auf der Intensivstation eines Krankenhauses landen und meinen Körper möglichst gut in Schuss bringen wollte. Und so bin ich jetzt, kurz nach Erscheinen meines „Wadlbeissn“-Bandes, tatsächlich wieder so beweglich und schlank wie einst in jungen Jahren. Kurzum: Ich kann keine Parallelen zwischen Mundartdichtung und Körpergewicht bestätigen.

 

Ich klopfe gerne Instanzen, die behaupten, die Moral für sich gepachtet zu haben, auf ihre Glaubwürdigkeit ab.

Dass du in deinen Gedichten auch vor solch schwierigen Themen wie Missbrauch von Schutzbefohlenen durch kirchliche Würdenträger nicht zurückschreckst und bissig-satirische Bilder kreierst („Reizwäsche … am Kirchturm gehisst“ aus: „Kiachwei“), erfordert schon gehöriges Fingerspitzengefühl. Gedichte wie „Postkatholisches Krippenbild“ sind auf liebenswürdige Art sehr entlarvend. Gab es da in deiner Kindheit oder Jugend Schlüsselerlebnisse? Auch familiäre Realitäten und Dissonanzen, Rollenverteilungen, ja selbst Themen wie Heimunterbringung der älteren Generation findet man in deinen Gedichten. Wie entscheidet sich bei dir, ob etwas zu Lyrik wird?

Ich klopfe gerne Instanzen, die behaupten, die Moral für sich gepachtet zu haben, daraufhin ab, ob sie ihren hoch gesteckten Ansprüchen und Maximen auch in der Realität gerecht werden, denn gerade sie sind es ja, die andere gerne verbal ins Fegefeuer verbannen. Da spielt natürlich die katholische Kirche in ihrem verlogenen Umgang mit Sexualität eine herausragende Rolle. Ein priesterlicher Freund hat mir einmal gesagt: „Es gibt bei uns drei Typen von Amtsbrüdern: Die einen haben eine Freundin, die anderen gehen ins Puff, die dritten sind schwul.“ Über die vierte Sorte, die sich an Kindern vergreift, hat er sich ausgeschwiegen. Von daher bin ich seit jeher für die Aufhebung des Zölibats und für die Priesterweihe von Frauen, weil dann auch das männerbündlerische Dichthalten und der damit verbundene Corpsgeist logischerweise abnehmen würden.
Ich selbst habe als Kind erfahren, wie schnell Priester auch brutal werden können. Ich bin in der Grundschule an einen prügelnden Dorfpfarrer geraten, der mich einmal an den Haaren durch das ganze Klassenzimmer schleifte und mich über das Lehrerpult legte, worauf er mich zwang, die Hose herunterzulassen, damit er mich mit dem Rohrstock auf den nackten Hintern schlagen konnte. Es gelang mir glücklicherweise, vom Pult zu springen und mich vor seiner auch in sexueller Hinsicht relevanten Übergriffigkeit zu retten. Aber solche Ereignisse brennen sich lebenslang ins Gedächtnis ein.
Welche Themen in meine Gedichte Eingang finden, entscheide ich intuitiv. Es kann ein Zettel an einem Gartentor genügen, auf dem steht „Ab hier bitte lächeln“. Diese Aufforderung empfinde ich als Einladung an einen subversiven Poeten, darüber zu schreiben. Giuseppe Ungaretti sagte einmal sinngemäß, es sei Aufgabe des Dichters, eine „schöne“ Biographie zu hinterlassen. Schön muss sie meines Erachtens nicht sein, aber aufrichtig und ehrlich.


In Kapitel II wird es politisch. Ob Ökosteuer, allgemeine Übersättigung, Müllentsorgung, Umweltverpestung durch Autos, Gülle oder andere menschliche Hinterlassenschaften, die „Politik auf dem Prüfstand“ glänzt durch Untätigkeit. Gibt es auch Themen, die du dir manchmal verkneifen musst, weil sie gar zu polarisierend sind?

Eigentlich gibt es für mich keine Tabuthemen beim Schreiben. Aber natürlich muss ich die Persönlichkeitsrechte anderer wahren sowie die Urheberrechte. Ich erspare es mir, Lieder von bekannten Popgruppen zu variieren oder zu zitieren, weil ich sonst, rechtlich gesehen, in Teufels Küche kommen könnte. Und das Abschreiben überlasse ich, salopp gesagt, Politikerinnen und Politikern, die offensichtlich keine Zeit für ordentliche Recherchen haben oder intellektuell gar nicht in der Lage dazu sind, sie durchzuführen. Ob ein Thema polarisiert oder nicht, ist mir eigentlich egal. Wenn ich über etwas schreiben will, dann versuche ich, es auch zu tun.

 

Dem Leben könnten wir uns nur durch den Tod entziehen.

Der dritte Teil von „Wadlbeissn“, „Der schöne Schein“, widmet sich den Dingen hinter der Fassade, dabei werden u. a. das Gesundheitssystem, die Lebensmittelproduktion samt Etikettierung („Bio“), abermals die Kirche sowie politisch-pandemische Maßnahmen durchleuchtet. In deinem Gedicht „Aufploppen“ heißt es: „Das Leben / Ist ein teurer / Pop-up-Store, / Es verkauft dir / Für viel Geld eine XXL-Packung / Stupidum forte.“ Liegt nicht unsere persönliche Macht darin, dass wir uns dem Kauf verweigern können?

Dem Leben könnten wir uns nur durch den Tod entziehen, und das wäre keine Lösung. Aber eines Tages müssen wir sterben, und der Tod lässt bekanntlich nicht mit sich verhandeln, ihm können wir uns nicht verweigern. Und auch dem Betrogen- oder Verarscht-Werden im Leben, sei es durch die machthungrigen und geldgierigen Spitzenkräfte in Politik und Wirtschaft oder durch ungreifbare kriminelle Organisationen, die fortwährend versuchen, unsere Computersysteme zu kapern, können wir uns nicht durch Verweigerung entziehen, sondern wir können nur versuchen, uns bestmöglich dagegen zu wappnen. Aber jedem zu misstrauen, dem wir begegnen, auch jeder angebotenen Ware, ist kein Weg zum Glück.
Am schlimmsten sind für mich jene Menschen, die unsere Empathie und Mitmenschlichkeit ausnutzen. Ein entfernter Verwandter von mir wurde an der Haustür um ein Glas Wasser gebeten und, als er es reichte, ins Haus zurückgedrängt, niedergeschlagen und ausgeraubt. Er starb an den Folgen der Schläge, weil er etliche Stunden zusammen mit seiner Frau gefesselt in einer Speisekammer eingesperrt war und sie keinen Rettungswagen für ihn rufen konnte.

 

Lyrik funktioniert meines Erachtens eher im Bereich der Details und der Kleinsymbolik.

In der allerersten Ausgabe von DAS GEDICHT (Nr. 1 / Oktober 1993) ist u. a. ein interessanter Essay von Fritz Deppert mit dem Titel „Gedichte & Politik“ zu lesen. Darin schreibt er: „Noch leben wir nicht wieder in schlechten Zeiten für Lyrik. Noch können wir gegen rechts anschreiben und […] Fantasie gegen rechts entwickeln. Aber wer schreibt schon so etwas, wenn er schlechte Marktchancen dafür sieht?“ Leben wir denn jetzt in schlechten Zeiten für Lyrik – schon allein durch die vielen pandemiebedingten Veranstaltungsausfälle –, oder hat Fritz Depperts Aussage nach annähernd 30 Jahren nach wie vor Bestand?

Ich glaube, dass sich kein lebenserfahrener Lyriker heute noch große Marktchancen für Poesie ausrechnet, insbesondere dann nicht, wenn er gerade an einem Gedichtprojekt arbeitet. Denn nennenswert vertreten ist die zeitgenössische Lyrik hierzulande im Buchhandel doch schon lange nicht mehr. Dort gelten wie überall die Gesetze des Kapitalismus, und der Stärkere versucht den Schwächeren zu verdrängen. Hinzu kommt: Lyrik funktioniert seit jeher eher in kleineren Zirkeln. Dort allerdings gab und gibt es viele Enthusiasten. Goethe, Rilke und Co. konnten auch nur überleben, weil Förderer und mächtige Mäzene hinter ihnen standen. Daran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert. Im Abspann von Lyrikbänden aus dem Barock (und auch noch später) finden sich seitenlange Einträge mit Namen der Subskribenten, eine frühe Form des Crowdfundings, um aufwändige Lyrikprojekte zu finanzieren und zu ermöglichen. Die Lyrikerin Anna Louisa Karsch schrieb hauptsächliche Widmungsgedichte, und vermutlich hat ihr dies auch das wirtschaftliche Überleben gesichert. Im Werk der kürzlich verstorbenen großen österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker spielen Widmungsgedichte an ihr soziales und künstlerisches Umfeld eine große Rolle. Auch in der Antike waren Widmungsgedichte gang und gäbe.
Dass Lyrik wirklich das richtige Mittel ist, um gegen eine politische Richtung kämpferisch anzuschreiben, halte ich für sehr fraglich. Mit satirischen Verskommentaren mag es noch funktionieren, aber Agitprop bleibt an der Oberfläche. Wenn wir uns an die großen Gedichte von Bertolt Brecht oder Kurt Tucholsky erinnern, dann werden uns nicht ihre politischen Gedichte einfallen, sondern bei Brecht vor allem seine großartigen Liebesgedichte. Das mag bei Dramen, auch von Brecht, ganz anders sein. Lyrik funktioniert meines Erachtens eher im Bereich der Details und der Kleinsymbolik. Je mehr sie ins Detail geht, umso mehr erklärt sie uns die Welt und führt uns als Dichter auch ein Stück näher an uns selbst heran.

 

Wenn du auf annähernd 30 Jahre DAS GEDICHT zurückblickst, gibt es irgendetwas, das du heute, mit deinem jetzigen Wissen anders machen würdest?

Es hat bislang keine reine Lyrik-Zeitschrift oder -Jahresschrift in der deutschen Literaturgeschichte gegeben, die fast drei Jahrzehnte lang ohne jede Unterbrechung erschienen ist. Sogar das „Jahrbuch der Lyrik“ hatte immer wieder Aussetzer, und es wanderte von Verlag zu Verlag, weil sich offensichtlich kein Verleger auf längere Sicht dazu in der Lage sah, das Projekt auf solide finanzielle Beine zu stellen.
Wir haben mit DAS GEDICHT sicherlich auch deshalb so lange durchgehalten, weil wir auf Veränderungen stets flexibel und zeitnah reagierten. Als wohl erste Literaturzeitschrift in Deutschland starteten wir Anfang der Neunzigerjahre einen eigenen Internetauftritt (übrigens gleich inklusive Lyrikshop, der unter www.dasgedicht.de online ist), wenig später kam mit www.dasgedichtclip.de ein eigener Lyrik-YouTube-Kanal hinzu, und zum zwanzigsten Jubiläum von DAS GEDICHT hoben wir unser Online-Forum www.dasgedichtblog.de aus der Taufe.
Den Rezensionsteil von DAS GEDICHT verlagerten wir in den 2010er Jahren auf unseren Blog, weil wir dort wesentlich flexibler und bei Bedarf tagesaktuell reagieren können, einen Großteil der Essays ebenfalls, so dass sich die Printausgabe heute auf den eigentlichen Kern konzentrieren kann, nämlich die Erstveröffentlichung von zeitgenössischer relevanter Lyrik. Sie präsentieren wir in buchstarken Themenausgaben.
Von daher gibt es derzeit keinen Grund, weitere Änderungen am Konzept von DAS GEDICHT und der damit verbundenen Serviceleistungen zu tätigen. Selbstverständlich hängt so ein Projekt immer vom Enthusiasmus einzelner Personen ab, die es tragen. Alle Einnahmen und Überschüsse, alles, was ich als Schriftsteller, Herausgeber, Literaturveranstalter und Verleger verdiene, wird in mein Herzensprojekt DAS GEDICHT gesteckt, insofern funktioniert es auch nur durch meine Bereitschaft, ein ungewöhnliches Lebensmodell jenseits des großen Luxus zu führen. Der immaterielle Gewinn ergibt sich für mich aus den Früchten meiner lyrischen Arbeit.

 

Mit jedem Schriftsteller stirbt eine ganze Bibliothek.

Auch das Älterwerden und der Tod sind in deinem „Wadlbeissn“ Thema. Wie sehr beschäftigt dich die Vergänglichkeit allen Lebens?

Sie beschäftigt mich sehr. Als ich DAS GEDICHT gründete, war ich knapp 30. Am 16. Juni 2021 werde ich 60 Jahre alt und bin dann auch 30 Jahre mit Felizitas verheiratet. Das erfüllt mich mit Freude. Allerdings sind die drei Jahrzehnte auch schnell vergangen. Von den Dichterinnen und Dichtern, die einst meine Zeitschrift DAS GEDICHT mitgeprägt haben, leben heute manche nicht mehr: Erika Burkart, Hilde Domin, Werner Dürrson, Hans Eichhorn, Adolf Endler, Robert Gernhardt, Ernst Jandl, Karl Krolow, Günter Kunert, Mario Luzi, Peter Maiwald, Rainer Malkowski, Roger Manderscheid, Kurt Marti, Friederike Mayröcker, Gerhard Neumann, Herbert Rosendorfer, SAID, Dorothee Sölle, Mario Wirz, Paul Wühr und andere. Sie fehlen mir unendlich, weil ich mit etlichen von ihnen eng befreundet war und bestens mit ihnen zusammengearbeitet habe.
Aber Vergänglichkeit und Tod sind seit jeher ein hauptsächliches Thema der Poesie, insofern treffen solche Erfahrungen früher oder später alle, die älter werden. Mit jedem Schriftsteller stirbt eine ganze Bibliothek, die er vielleicht noch geschrieben hätte.

 

Gibt es Dinge, die dir früher wichtig waren und heute ganz egal sind?

Vor meinem Herzinfarkt im Jahr 2019 habe ich mich des Öfteren nach dem Motto „Viel Feind, viel Ehr“ in den Kampf gegen Neid und bösartige Anfeindungen, denen ich ausgesetzt war und bis heute bin, hineingestürzt. Heute versuche ich, solchen negativen Erfahrungen wesentlich gelassener zu begegnen, denn die größte Genugtuung für missgünstige Menschen ist es ja, wenn man sich ihnen ausgiebig und mit viel Energie widmet. Ich habe gelernt, dass es viel wichtiger ist, meine Kräfte für konstruktive und kreative Arbeit einzusetzen. Und im Übrigen ist es ja für einen Lyriker ein großes Kompliment, heiße oder kalte Reaktionen auf seine Arbeit zu erhalten, und nicht als lau eingestuft zu werden.

 

Was war deine größte Herausforderung im Leben?

Zu den größten Herausforderungen in meinem Leben zählte es, mit wenig Zeit und wenig Lust das juristische Staatsexamen in Bayern gut zu bestehen, eines der schwersten Examina in Deutschland. Und mindestens genauso schwer war es für mich, nach meiner doppelseitigen Lungenembolie im Jahr 2018 wieder auf die Beine zu kommen und mein Leben umzukrempeln – was ich dann zwar geschafft habe, aber dabei bin ich wohl auch zu radikal vorgegangen. Es könnte sein, dass ich deshalb auf den Tag genau ein Jahr später einen Herzinfarkt erlitt, allerdings ist es auch logisch, dass man nicht in einem Jahr mit einem noch so gesunden Leben seine Gesundheit vollständig wiederherstellen kann.

 

Selbstbeweihräucherndes Gehabe, überhebliche Arroganz und Scheuklappen-Ignoranz, kombiniert mit Demutsgesten

Was nervt oder verärgert dich an Menschen und / oder in der Literaturbranche am meisten?

Selbstbeweihräucherndes Gehabe, überhebliche Arroganz und Scheuklappen-Ignoranz, kombiniert mit Demutsgesten gegenüber jenen Leuten, die an den Hebeln zur Ausschüttung von Fördermitteln und Literaturpreisen sitzen, also Juroren und Kultusbürokraten, stören mich im hiesigen Literaturbetrieb sehr.
Wie im Literaturbetrieb hierzulande mit Menschen umgegangen wird, habe ich immer wieder auch selbst spüren müssen. Ein Beispiel möchte ich benennen: Als einstiger Vorsitzender der „Initiative Junger Autoren“ (IJA) gehörte ich zu den Mitinitiatoren des Münchner Literaturhauses. Mit dessen langjährigem Leiter und Mitbegründer Reinhard G. Wittmann konnte ich ca. zwei Jahrzehnte lang freundschaftlich zusammenarbeiten. Wir haben gemeinsam spektakuläre Lyrikveranstaltungen mit hunderten von Zuschauern durchgeführt, zusammen mit Dichtern wie Robert Gernhardt. Unvergesslich unser lyrischer Erotik-Abend, bei dem die Besucherinnen und Besucher vor dem Literaturhaus und im Treppenhaus Schlange standen. In eben jenem Treppenhaus wurden über die Jahrzehnte hin die Namen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller verewigt, die dort prägende Auftritte hatten. Zufall oder kein Zufall: Kurz nachdem Reinhard G. Wittmann in den Ruhestand verabschiedet worden war, wurden Namen von einzelnen Schriftstellern übertüncht, so auch meiner. Auf eine solche Art ausradiert zu werden, ist keine gute Erfahrung, gelinde gesagt.

 

Welches sind deine lyrischen und herausgeberischen Ziele, auf die du in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zusteuern möchtest?

Die Pandemie und deren streckenweise dilettantisches Management durch die Politik, insbesondere, was uns Kulturschaffende betrifft, hat mich gelehrt, lieber nur noch auf Sicht zu fahren. Langfristige Planungen waren eigentlich schon immer ziemlich vermessen, genauso wie zu hoch gesteckte Ziele. Und der Eindruck, dass dem so ist, hat sich jetzt eben verstärkt. Außerdem muss ich mir heute nichts mehr beweisen. Ich freue mich jeden Tag daran, am Leben zu sein und arbeiten zu können. Und bin all jenen unendlich dankbar, die mir mit ihren privaten Mitteln geholfen haben, nach schweren Schicksalsschlägen meine Arbeit rund um die Poesie und ihre Vermittlung fortzusetzen.


Was wäre dein größter Wunsch im Hinblick auf dein Schriftstellerdasein?

Wenn ich zwei Wünsche offen hätte, wäre der erste: Ich würde gerne noch einige Jahre ohne größere Schicksalsschläge und Erkrankungen weiterarbeiten können, und ohne Anfeindungen oder Missgunst ausgesetzt zu sein. Außerdem wäre es ein Herzenswunsch von mir, einmal eine GEDICHT-Ausgabe ohne die Anstrengungen der Anzeigenakquise machen zu dürfen, also mich einmal ein Jahr lang ohne finanzielle Sorgen ausschließlich dem Verfassen und Edieren von Lyrik hinzugeben. Aber ich fürchte, das wird ein frommer Wunsch bleiben, trotz all der Unterstützung durch unsere GEDICHT-Familie.

Lieber Anton, herzlichen Dank für dieses umfassende und interessante Interview!

© Franziska Röchter für dasgedichtblog.de

 


 

Anton G. Leitner: Wadlbeissn – Zupackende Verse Bairisch – Hochdeutsch
Volk Verlag, München 2021
ISBN 978-3-86222-352-7
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
200 Seiten, € 18,00

Ausführliche Buchvorstellung auf diesem Blog:
„Mundartdichtung ohne Heimattümelei“:
der neue Gedichtband von Anton G. Leitner

 

 

Mehr vom Autor? Hier ein Videotipp:
In der Reihe „60 Sekunden Poesie“ des Volk Verlags rezitiert Anton G. Leitner zwei zupackende bairische Gedichte aus seinem Band »Wadlbeissn«, Volk Verlag, München 2021 (mit hochdeutschen Untertiteln).
Und in einem Kurz-Statement beantwortet er die Frage: „Warum Lyrik?“
Produktion: Pavel Brož und Jörg Reuther
Den Clip gibt’s hier auf Youtube: https://youtu.be/jgW6C1sKY28
Und natürlich auch unter: www.Wadlbeissn.de

 

Die Rubrik »Der Poesie-Talk« wurde in Zusammenarbeit mit Timo Brandt gegründet, der die ersten fünf Folgen betreute. Alle bereits erschienenen Folgen von »Der Poesie-Talk« finden Sie hier.

 

Franziska Röchter

Franziska Röchter, (*1959), kam als Österreicherin auf die Welt und lebt derzeit mit deutscher Staatszugehörigkeit in Verl. Sie schreibt seit vielen Jahren Lyrik, Prosa, kulturjournalistische Beiträge, Rezensionen und mehr. Jahrelang verfasste sie für den mittlerweile eingestellten bekannten Blog der Poetryslamszene, Myslam, Beiträge, Rezensionen, Interviews und trat etliche Jahre (erstmalig mit 50) als Poetry Slammerin in Erscheinung. Sie organisiert(e) Lesungsveranstaltungen in Gütersloh und Bielefeld und betreibt seit 2011 den chiliverlag.
Franziska Röchter war mehrmals Jubiläumsbloggerin für die Zeitschrift DAS GEDICHT (2012 und 2017), führte Interviews und schrieb Features über annähernd 100 bekannte Persönlichkeiten der Literaturszene.
1. Preis Hochstadter Stier (jetzt: Lyrikstier) 2011, seit 2015 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. mit Sitz in Leipzig, Mitglied im VS NRW.
Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig in bekannten Literaturorganen wie DAS GEDICHT (Anton G. Leitner), in Vers_netze (Axel Kutsch), im Poesiealbum neu (Ralph Grüneberger), bis zu seiner Einstellung (2014) in Der Deutsche Lyrikkalender (Shafiq Naz) vertreten. Unzählige Veröffentlichungen in anderen Printmedien, Anthologien, Zeitschriften (u.a. bei dtv, in Flandziu, Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, in Signum, Blätter für Literatur und Kritik u.v.m.). Etliche eigenständige Veröffentlichungen (Bücher, CDs), zuletzt das Projekt Fernreise. Philipp Röchter singt und spielt Gedichte von Franziska Röchter, 2017. Darüber hinaus ist Franziska Röchter Rundum-Betreuerin ihrer stark pflegebedürftigen Tochter.

© Franziska Röchter, 12/2018

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