Werk, Wirkung, Wirklichkeit: Am 22. jeden Monats unterhalten sich im losen Wechsel GEDICHT-Herausgeber Anton G. Leitner und die Bloggerin Franziska Röchter mit Schriftstellern und Literaturvermittlern über ihre Arbeit und ihr Leben.
Lieber Siegfried, wie sehr belasten die verschiedenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung dein persönliches Leben?
Äußerlich eine ganze Menge – ich bin seit dem Frühjahr in Kurzarbeit. Ich arbeite für die Literaturhandlung von Rachel Salamander – springe zwischen den Läden im Jüdischen Museum in München, dem NS-Dokumentationszentrum und der KZ-Gedenkstätte in Dachau hin und her, was mir sehr gut gefällt, aber natürlich leiden die besonders unter Besucherschwund.
Innerlich, zuhause, komme ich gut damit zurecht, ich habe große Vorräte an Büchern und Musik.
Wenn du deine eigene Befindlichkeit graphisch darstellen müsstest, wie würde das aussehen?
Es ist wie in einer Sinuskurve – auf und ab, manchmal sanfter, manchmal wird die Kurve spitzer und es geht steiler nach unten – oder nach oben, gibt‘s auch.
Bekanntermaßen reist du sehr gerne. Wie hältst du es aus, derzeit eher nicht reisen zu können?
Das fehlt mir schon, ich staune gern; als ich das erste Mal vor dem Kolosseum gestanden bin – unvergleichlich, das Matterhorn, Pitigliano …
Aber ich wollte mich nie von Gewohnheiten abhängig machen, nie sagen: Ich brauche das jetzt, mir nicht damit enge Mauern bauen. Wenn es nicht ist, ist es schade, aber „Lebbe geht weiter“.
„Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“
Francis Picabia
Mit welchen Strategien und Maßnahmen versuchst du, die Laune nicht in den Keller sinken zu lassen? Was sind deine Best-of-Tipps gegen Corona-Koller?
Gehen, viel gehen, weil in den Innenstädten oft Maskenpflicht herrscht, im Wald, am Fluss.
„Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!“ – schreibt Günter Eich in einem Gedicht, und tatsächlich sind die Bäume auf meinen Spaziergängen große Trostspender, und natürlich John Lee Hooker: „Music is the healer“.
In deinem 2018 erschienen letzten Lyrikband „(so viel zeit hat niemand)“ heißt es: „was für ein rundum / tröstender anblick / ein alleinstehender / stein“. Und in dem Gedicht ich reise gern wünscht sich das Lyrische Ich, eines Tages mit Steingeschwindigkeit reisen zu können. Können wir aktuell von Steinen etwas lernen?
Geduld, Gelassenheit und interessant sein trotz allem.
Warum steht der Titel deines genannten Buches in Klammern? Wenn du das Buch in diesem Jahr veröffentlicht hättest: Würde der Titel genau so lauten?
Ja, der Titel ist ein Zitat aus einem der Gedichte im Buch, aber treffend ist er auch jetzt.
Die Leute hätten viel Zeit, aber sind eher hilflos damit, es ist etwas Ungelerntes, das zeigen die Klammern.
Auch Tiere – z.B. Krähen, Katzen etc. – haben es dir angetan. Woher kommt dein besonderes Verhältnis zu Tieren?
Ich sehe sie ständig, überall, sie drängeln sich in die Gedichte, manchmal ganz unverhofft – aber ich mag‘s und verjage sie nicht.
Gleich zwei Kapitel deines Lyrikbandes haben mit der Ordnung bzw. Unordnung zu tun: „als unordentlicher rest“ und „nicht zu viel unordnung hinterlassen“. Warum ist dir das Thema besonders wichtig?
Das ist die große Spannung. Wir wünschen uns Regeln, Pflöcke, an denen wir uns entlang hangeln können, und gleichzeitig wünschen wir uns große Freiheit. Viele denken bei Freiheit allerdings an: „Ich kann alles tun, was ich will“, was ganz fatale Wirkungen haben kann und, wie ich glaube, ein Missverständnis ist.
Freiheit ist schwer, weil‘s allerhand Verantwortung dazu braucht.
Der ZEN-Meister sagt:
offen weite
nichts von heilig
Das probier‘ mal aus, ohne dass du mit dir selbst und den anderen zusammenkrachst.
Insgesamt scheint das Thema Zeit sehr wichtig für dich zu sein. Auch frühere Herausgaben von dir beschäftigen sich damit, siehe Titel wie „Des Menschen Engel ist die Zeit“, „Zeit für dich“, „Überlass es der Zeit“ … Wird die Zeit grundsätzlich immer wichtiger, je mehr wir das Gefühl haben, sie läuft uns davon?
Das sind erschreckende Momente, wenn dir das auffällt.
Kürzlich hat eine junge Freundin gemeint: „Aber mit dem Alter kommt Gelassenheit, Ruhe, Weisheit sogar.“
Aber ich denke, oft ist es so, dass man einfach langsamer wird, das sieht dann so aus, als würde man sich die Antworten lange überlegen, nachdenklich herumgehen, dabei geht es nur nicht schneller.
Und die Zeit für die Welt wird eher knapp, sie schmilzt weg und erstickt.
Abgesehen davon ist die Zeit ja nichts, was so kontinuierlich dahin trödelt, sie hetzt fürchterlich oft, oder steht einfach.
Welches ist eins deiner ganz besonderen literarischen Erlebnisse oder Erfolge der letzten Jahre?
Mir ist der, wie sich dann herausgestellt hat, reichlich absurde Gedanke gekommen, für eine Freundin zu Weihnachten ein Buch zu machen, in dem aus jedem meiner Lyrikbände ein Gedicht steht. Ich hab im Februar damit begonnen und war tatsächlich im Dezember fertig. Auf diese Weise hab ich herausgefunden, dass ich 1259 Lyrikbände im Regal hab (letzten Dezember), zwei dicke Bücher mit jeweils mehr als 700 Seiten sind daraus geworden – es gibt nur ein Exemplar davon.
Dass ich grad das Manuskript für einen neuen Lyrikband abgeschlossen habe, finde ich auch großartig!
Und natürlich das Stöbern und Entdecken in Buchhandlungen.
Wenn demnächst – hoffentlich – die gegenwärtige Krise beendet sein würde – was würdest du als eines der ersten Dinge dann tun?
Ich hab kürzlich im TV eine kleine Umfrage geseh‘n, Leute auf der Straße, was ihnen fehlt – Party, Reisen usw.
Mir fehlt am meisten, die Gesichter der Leute zu sehen, ich würde, wie ich das immer gern tu‘, viel in der Stadt herumgehen und Leute betrachten.
Wie siehst du als Buchhändler mit Blick auf ausfallende Buchmessen und die verstärkte Hinwendung zum Digitalen die aktuellen Entwicklungen?
Einerseits gut, wenn es wirklich Leser bringt, andererseits hab ich immer Mitleid, wenn ich beispielsweise im Zug sitze und sehe um mich nur Leute mit Handy und Tablett lesen.
Weil: ohne Buch – was für eine verlorene Welt.
Falls man zum positiven Denken neigt: Siehst du persönlich in den gegenwärtigen Entwicklungen auch eine Chance für die Menschheit und wenn ja, welche?
Es ist das, was immer möglich ist, was oft unterschätzt wird: Mehr denken und ein bisschen mehr Freundlichkeit.
Lieber Siegfried, herzlichen Dank!
© Franziska Röchter für dasgedichtblog, 11/2020
Siegfried Völlger
(so viel zeit hat niemand), Gedichte
Allitera Verlag, 2018
ISBN 978-3962330750, 108 Seiten
Euro 14,50
Kurzvita
Siegfried Völlger, geboren 1955 im Bayerischen Wald, lebt in Augsburg.
Nach einer längeren Berufsfindungsphase (Bauarbeiter, Fabrikarbeiter, Spüler, Krankenpfleger, Wirt … ) die Berufung zum Buchhändler entdeckt. Erste Veröffentlichungen – Mundart-Gedichte – in den Siebzigerjahren. Beiträge in Zeitschriften und Anthologien. Letzte Veröffentlichung: (so viel zeit hat niemand). Gedichte, Allitera Verlag, München 2018
Die Rubrik »Der Poesie-Talk« wurde in Zusammenarbeit mit Timo Brandt gegründet, der die ersten fünf Folgen betreute. Alle bereits erschienenen Folgen von »Der Poesie-Talk« finden Sie hier.
Franziska Röchter, (*1959), kam als Österreicherin auf die Welt und lebt derzeit mit deutscher Staatszugehörigkeit in Verl. Sie schreibt seit vielen Jahren Lyrik, Prosa, kulturjournalistische Beiträge, Rezensionen und mehr. Jahrelang verfasste sie für den mittlerweile eingestellten bekannten Blog der Poetryslamszene, Myslam, Beiträge, Rezensionen, Interviews und trat etliche Jahre (erstmalig mit 50) als Poetry Slammerin in Erscheinung. Sie organisiert(e) Lesungsveranstaltungen in Gütersloh und Bielefeld und betreibt seit 2011 den chiliverlag.
Franziska Röchter war mehrmals Jubiläumsbloggerin für die Zeitschrift DAS GEDICHT (2012 und 2017), führte Interviews und schrieb Features über annähernd 100 bekannte Persönlichkeiten der Literaturszene.
1. Preis Hochstadter Stier (jetzt: Lyrikstier) 2011, seit 2015 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. mit Sitz in Leipzig, Mitglied im VS NRW.
Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig in bekannten Literaturorganen wie DAS GEDICHT (Anton G. Leitner), in Vers_netze (Axel Kutsch), im Poesiealbum neu (Ralph Grüneberger), bis zu seiner Einstellung (2014) in Der Deutsche Lyrikkalender (Shafiq Naz) vertreten. Unzählige Veröffentlichungen in anderen Printmedien, Anthologien, Zeitschriften (u.a. bei dtv, in Flandziu, Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, in Signum, Blätter für Literatur und Kritik u.v.m.). Etliche eigenständige Veröffentlichungen (Bücher, CDs), zuletzt das Projekt Fernreise. Philipp Röchter singt und spielt Gedichte von Franziska Röchter, 2017. Darüber hinaus ist Franziska Röchter Rundum-Betreuerin ihrer stark pflegebedürftigen Tochter.
© Franziska Röchter, 12/2018