Werk, Wirkung, Wirklichkeit: Am 22. jeden Monats unterhalten sich im losen Wechsel GEDICHT-Herausgeber Anton G. Leitner und die Bloggerin Franziska Röchter mit Schriftstellern und Literaturvermittlern über ihre Arbeit und ihr Leben.
Lieber Rolf, man kann feststellen, dass eine große Zahl journalistisch tätiger Menschen gleichzeitig belletristisch schreibt. Welches Interesse war bei dir als Kulturjournalisten zuerst da: das des medialen Kulturberichterstatters oder das des Gedichtschreibers, des Verfassers von literarischen Texten? Wie bist du zum Schreiben gekommen? Hat der Schulunterricht deine Liebe zur Literatur entfacht?
Erst Gedichte, dann Berichte. Die Schule entfachte da eher wenig. Ich habe zwar im Abitur Rainer Maria Rilkes „Blaue Hortensie“ gepflückt, das Untersuchungsergebnis kam jedoch nicht so gut an. Während des Studiums griff dann ein Kommilitone ins Regal und hielt mir Paul Celans „Mohn und Gedächtnis“ entgegen. Das war ein Auslöser. Ein unvergesslicher Moment. Hinzu kam ein Professor, der in Vorlesungen und Seminaren auch auf zeitgenössische Literatur einging. Also, nicht die Schule, das Studium regte an. Und natürlich die Liebe (weniger zu Liebeslyrik als grundsätzlich).
Kannst du dich noch an dein allererstes Gedicht erinnern? Wovon handelte es?
Nein, die ersten Vers-Versuche sind nicht präsent. Veröffentlicht wurde das erste, abgesehen von einem Zyklus in einem Selbstverlagsprojekt mehrerer Autoren 1980, in der Münchner Literaturzeitschrift „Rind & Schlegel” 1981. Es heißt „Sätze“ und erscheint mir heute etwas düster.
Wie bist du zum Ressort Kultur gekommen? Hättest du dir auch andere Bereiche vorstellen können? Z.B. investigativen Journalismus?
Ich bin, bei vorhandenem Interesse, durch Zufall zur Zeitung gekommen. Eine Volontärin wies mich darauf hin, dass freie Mitarbeiter im Kulturbereich gesucht würden. Ich rief an und bekam vom Kulturredakteur gleich einen Auftrag, übrigens eine Dichterlesung.
Wie hast du – Gütersloher Urgestein, Ostwestfale durch und durch – die vergangenen Monate, das letzte halbe Jahr im Kreis Gütersloh erlebt? Hat es dich persönlich betroffen gemacht, dass der Name Gütersloh aufgrund pandemischer Auswüchse – wie übrigens auch der Name Verl – eher negativ behaftet durch die Medien gereicht wurde und von den schönen Seiten unserer Region so wenig zu sehen war?
Es war schon seltsam, mit Stadt und Kreis so unvermittelt im Zentrum medialer Aufmerksamkeit zu stehen. Leider fielen sämtliche Kulturtermine (und die meisten anderen) aus, schmerzlich für alle Beteiligten. Doch es gab auch diese Ruhephase, leere Straßen bei schönstem Wetter. Man konnte sich endlich einmal mit Marcel Proust dauerhaft lesend „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ befinden.
Glaubst du, dass pressemäßig im Zusammenhang mit der Corona-Krise alles optimal verlaufen ist oder was hätte noch besser laufen können?
Die Presse hatte ein dankbares Dauerthema und hat den Zuständigen schon auf die Finger geschaut. Aber bei Corona ist ja jeder auch selbst zuständig. Man wird sehen, wie sich Dauerwurst hiesiger Provenienz dennoch weiterverkaufen wird.
Brauchen wir wirklich einen „Neustart“, einen „Re-Start“ der Kultur? Einen „Kulturgipfel“ gar, ein sogenanntes „Kulturhappening“, einen „Kulturpakt“, einen „Kulturfonds“? Wie könnte so etwas aussehen, wenn insgesamt keine gravierenden Lockerungen der Hygieneregeln im Hinblick auf Corona verfügt werden? Zum einen geht es ja bei diesen Vorschlägen und Forderungen um finanzielle Mittel, um Förderungen, zum anderen um Ideen, Kunst auf „neuen Wegen“ wieder an den Rezipienten zu bringen. Hand aufs Herz: Kunst und Literatur an ungewöhnlichen Orten hatten wir auch schon vor Corona. Sind Menschen, die um Gesundheit und Existenz bangen müssen, überhaupt noch empfänglich für die Kür im Leben?
Happenings jeglicher Art scheinen ja bis auf weiteres nicht so empfehlenswert. Theater findet im Theater statt. Videos können es nicht ersetzen. Das verdeutlichte gerade der in der Corona-Flaute mit Texten namhafter Autorinnen und Autoren vom Theater Gütersloh in der Regie von Christian Schäfer hergestellte, wunderbare Film „Das Theater träumt“ (auf YouTube). Wer sich wirklich interessiert, wird auch wieder zu Kulturveranstaltungen gehen, wenn denn ein vernünftiger, handhabbarer Umgang mit dem Virus gefunden ist.
Ist es möglich, dass sich nunmehr, unter veränderten Bedingungen, die kulturelle Spreu vom Weizen trennt? Vielleicht ist es ein Problem, wenn – denken wir z.B. an die Literatur und Aussagen wie „Jeder Mensch ist ein Künstler“ – annähernd genauso viele Menschen Bücher schreiben wie potenzielle Leser vorhanden sind? Wie wird es deiner Meinung nach weitergehen mit den Veranstaltungsbranchen?
Siehe oben. Lesen im stillen Kämmerlein, aber für Theater, bildende Kunst, auch Lesungen usw. braucht es schon herkömmlich hergestellte Öffentlichkeit. Da werden sich Veranstalter finden.
Wäre nicht schon viel geholfen, wenn Lokalmedien heimische Künstler*innen wieder mehr in den Fokus rücken würden, anstatt – wie zu beobachten – immer mehr jene überregional bereits bekannten Musiker*innen, Literat*innen, bildende Künstler*innen in das Zentrum der Kulturseiten zu bringen? Irritiert es nicht, wenn nun zum Beispiel Medienmacher, die in der Vergangenheit die regionale Kulturberichterstattung/Kulturseiten eher eingestampft haben, sich nunmehr selbst als Kulturretter inszenieren?
Womöglich werden sich gerade lokale Printmedien noch mehr auf Inhalte konzentrieren, die tatsächlich auch viel gelesen werden, was durch (allerdings nicht unbedingt repräsentative) Testleser schon mal ermittelt wird. Und, wie man hört, zählt die Kultur eher nicht dazu. Ganz unabhängig von Corona. Der klassische Zeitungsleser studierte ja nicht jede Zeile. Er suchte sich seine Themen heraus, ließ sich durch Fotos oder Schlagzeilen aber auch auf andere Felder locken. Und selbst wer sich etwa nur für Politik und Sport interessierte, wollte doch normalerweise auch Wirtschaft und Feuilleton im Blatt haben, weil es einfach zum Gesamtbild gehörte. Wenn (Lokal-)Zeitungen dieses unter ökonomischen Zwängen beschneiden, könnte, ähnlich wie in kommunalen Haushalten, am ehesten die Kultur einzusparen sein. Aber mit dem Gesamtbild (ihrer selbst) scheint sich die Gesellschaft heute ja sowieso schwer zu tun.
Welche/r Dichter*in hat dich am meisten geprägt?
Neben dem erwähnten Paul Celan, von dem man aber eher beeindruckt als (wegen des Shoah-Hintergrunds) tatsächlich geprägt sein kann, haben mich auf unterschiedliche Weise Hans Georg Bulla, Hans-Ulrich Treichel und Eckart Kleßmann beeinflusst, sicher einige andere auch unbewusst.
Welche Bücher liegen aktuell auf deinem Nachttisch?
Keins, nie. Neben dem Sessel, auf dem Schreibtisch liegen Nadja Küchenmeisters Gedichtband „Im Glasberg“, Klára Hurkovás Sammlung „Licht in der Manteltasche“, Heimito von Doderers Roman „Die Strudelhofstiege“ und ein theologisches Fachbuch.
Man weiß relativ wenig über den privaten Rolf Birkholz. Deshalb hier noch einige profane Fragen: Hast du ein typisch westfälisches Lieblingsgericht?
Für Spaghetti mit Tomatensoße lasse ich fast alles stehen. Außer, wenn meine Mutter kocht, Knisterfinken (Stielmus, Steckrüben) zum Beispiel. Oder Himmel und Erde, obwohl das auch der Niederrhein für sich reklamiert.
Welche Filme interessieren dich am meisten? Welchen Kinofilm hast du zuletzt geschaut?
„Once upon a time in Hollywood“, aber das war ja schon 2019, meine Güte. Dieses Jahr kam bisher das Virus dazwischen. Die neue „Deutschstunde“ neulich im Heimkino. Lieblingsfilme bleiben etwa Eric Rohmers „Meine Nacht bei Maud“ oder „La Notte“ von Michelangelo Antonioni.
Welche Musik hörst du am liebsten?
Rock und Blues, mit denen ich in der 1970ern musikalisch sozialisiert wurde.
Wohin würdest du aktuell gern reisen, wenn die Umstände günstiger wären?
Vielleicht einmal in die italienische Po-Ebene?
Wenn du für einen halben Tag (literarischer) Reiseführer in Gütersloh und im Kreis wärst, wohin würdest du die Besucher*innen führen?
Wir träfen uns morgens in Rheda-Wiedenbrück am Markt, tränken einen Kaffee in der Blicklinie Luise Hensels von ihrer einstigen Wohnung hinüber nach St. Aegidius (ich würde mich innerlich ein wenig ducken). Dann führen wir direkt nach Werther-Arrode zum P. A. Böckstiegel-Museum mit der aktuellen Ausstellung dieses westfälischen Expressionisten. Anschließend ein Aufstieg zur Burg Ravensberg. Zwischendurch Hinweise auf Hans-Ulrich Treichel aus Versmold. Mittags beim besten Griechen Güterslohs. Dort würden die Gäste ermuntert, den Nachmittag dranzuhängen, denn man war ja fast nur im Nordkreis unterwegs. Wir würden also in Gütersloh am Alten Kirchplatz die Keimzelle Bertelsmanns zur Kenntnis nehmen, durch den Botanischen Garten streifen. Mitten in Rietberg besuchten wir den kleinen Garten mit Skulpturen von Johannes Niemeier. Weiter ginge es Richtung Emsquellen und und und. Und auch zu Verl fiele einem sicher etwas ein …
Lieber Rolf, herzlichen Dank für dieses Interview.
Ich habe zu danken.
Letzte Veröffentlichungen:
Ein Satz mit Rot – Gedichte
ISBN 978-3981750911, 56 Seiten, EUR 11,95
Elif Verlag, 2016
Ein leicht gekreuztes Nicken (Hg. Hans Georg Bulla, 2017)
Rolf Birkholz – Gedichte
Peter Marggraf – Eine Radierung
San Marco Handpresse, Herbst 2017
Zu beziehen über San Marco Handpresse Peter Marggraf
Das Fell der Welt, Gedichte
Gebundene Ausgabe: 76 Seiten
ISBN 978-3943292800, EUR 16,90
Softcover ISBN 978-3943292817, EUR 9,90
chiliverlag, 2019
© Franziska Röchter, 09/2020
Kurzvita
Rolf Birkholz wurde 1955 in Gütersloh geboren und lebt dort. Er studierte in Paderborn, München und Münster katholische Theologie, arbeitet als freier Journalist. Gedichte von ihm wurden in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht (Reihe „Poesie 21″, Jahrbuch der Lyrik). Es erschienen vier Einzeltitel, zuletzt „Ein Satz mit Rot” (2016), „Ein leicht gekreuztes Nicken” (Hg. Hans Georg Bulla, 2017), „Das Fell der Welt” (2019).
Die Rubrik »Der Poesie-Talk« wurde in Zusammenarbeit mit Timo Brandt gegründet, der die ersten fünf Folgen betreute. Alle bereits erschienenen Folgen von »Der Poesie-Talk« finden Sie hier.
Franziska Röchter, (*1959), kam als Österreicherin auf die Welt und lebt derzeit mit deutscher Staatszugehörigkeit in Verl. Sie schreibt seit vielen Jahren Lyrik, Prosa, kulturjournalistische Beiträge, Rezensionen und mehr. Jahrelang verfasste sie für den mittlerweile eingestellten bekannten Blog der Poetryslamszene, Myslam, Beiträge, Rezensionen, Interviews und trat etliche Jahre (erstmalig mit 50) als Poetry Slammerin in Erscheinung. Sie organisiert(e) Lesungsveranstaltungen in Gütersloh und Bielefeld und betreibt seit 2011 den chiliverlag.
Franziska Röchter war mehrmals Jubiläumsbloggerin für die Zeitschrift DAS GEDICHT (2012 und 2017), führte Interviews und schrieb Features über annähernd 100 bekannte Persönlichkeiten der Literaturszene.
1. Preis Hochstadter Stier (jetzt: Lyrikstier) 2011, seit 2015 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. mit Sitz in Leipzig, Mitglied im VS NRW.
Sie ist seit vielen Jahren regelmäßig in bekannten Literaturorganen wie DAS GEDICHT (Anton G. Leitner), in Vers_netze (Axel Kutsch), im Poesiealbum neu (Ralph Grüneberger), bis zu seiner Einstellung (2014) in Der Deutsche Lyrikkalender (Shafiq Naz) vertreten. Unzählige Veröffentlichungen in anderen Printmedien, Anthologien, Zeitschriften (u.a. bei dtv, in Flandziu, Halbjahresblätter für Literatur der Moderne, in Signum, Blätter für Literatur und Kritik u.v.m.). Etliche eigenständige Veröffentlichungen (Bücher, CDs), zuletzt das Projekt Fernreise. Philipp Röchter singt und spielt Gedichte von Franziska Röchter, 2017. Darüber hinaus ist Franziska Röchter Rundum-Betreuerin ihrer stark pflegebedürftigen Tochter.
© Franziska Röchter, 12/2018