Romantikerin der Jetztzeit umfassend zu erleben – »fischkind« von Anja Ross zeigt 30 Jahre dichterischen Schaffens  

Wenn man »fischkind« liest, wird schnell klar: Hier will eine nah heranrücken ans Ursprüngliche, an die Natur; hier steht das lyrische Ich zwar grundsätzlich einzeln in der Welt – aber bleibt letztlich immer auch geborgen. Man kann Anja Ross durchaus bezeichnen als: eine Romantikerin der Jetztzeit. Mit ihren lyrischen Naturbildern erfasst sie stets auch ihr eigenes Seelenleben; und ihr lyrisches Ich konzentriert sich auf den elementarsten individuellen Erfahrungsraum – das Ich in der Welt, in Liebe, Schwangerschaft und Tod. Anja Ross wird darin aber so grundlegend, dass jede Leserin und jeder Leser sagen kann: »Das betrifft mich!« Und zugleich bekennen wird: »So hätte ich es aber niemals formulieren können.«

Rund 30 Jahre dichterischen Schaffens umfasst der lyrische Sammelband von Anja Ross, der nun als Band 112 der von Anton G. Leitner bei Steinmeier herausgegebenen Reihe Poesie 21 erschienen ist. Ausgeleitet wird er durch ein Nachwort von Kerstin Hensel – jener vielfach ausgezeichneten Poetin, die auch als Professorin für Verssprache an der traditionsreichen Ernst-Busch-Hochschule für Schauspiel lehrt. Schon dies: eine große Würdigung und ein Gütesiegel.

Ostsee, Wüste, Wald und Winter – und immer meint die Natur den Menschen

Und tatsächlich, wer das Buch aufschlägt, ist schnell gefangen, lässt sich einnehmen von den stark visuellen Poemen, der eindrücklichen Sprache (die gerne Bekanntes aufruft, um es neu zu wenden, anders zu koppeln, poetisch zu vertiefen), den prägnant kurzen Versen, der oft prosanahen Sprache, die aber so gut wie nie ihre lyrische Schwingung verliert. An Bäumen und Vögeln, an Feldern und Fischen werden die Leserinnen und Leser vorbeigeführt, durch äußerste Kälte und manchmal ebenso bedrohliche, oft jedoch auch belebende Hitze hindurchgelotst. Wind wird als vitales und zerstörerisches Element der Natur erlebt und Technik ist zwar vorhanden, aber keinesfalls dominant. Und es wird offensichtlich: Jede Beschreibung meint letztlich den Menschen, selbst wenn ein Wald als Stillleben beschrieben wird und »Totholz« über den Versen steht: »nackt der leib / liegend silber« heißt es dann und »nekrosen an armdickem ast«. Wer sähe sich hier nicht auch an der menschlichen Bettstatt eines Toten oder Todesnahen – und eben nicht nur im geschundenen Wald?

Weitere Gründe für die Annahme, dass Ross als Romantikerin zu betrachten ist, stellen die zentralen Orte dar, denn sie sind: Wald und Meer. Neben der Ostsee finden sich zwar auch Brandungen in südlicheren Gefilden beschrieben, neben Dünen, Bunker, Sanddorn, Kieler Förde und wilder Hagebutte treten auch Feigenbaum, Gekko, Dinare, Wüstensand und Pinie auf, und der immer wiederkehrenden Schneeeinsamkeit wird auch einmal das hitzeflirrende städtische Treiben von Kairouan entgegengesetzt – doch ist selbst das Exotische hier, bei allem Realismus, stets sehnsuchtsvoll aufgeladen, und alles, was dargestellt wird, entspringt dem eigenen Erleben, wird aus der eigenen Perspektive gezeichnet und so eben fast durchweg im romantischen Sinne ausgeführt. Dazu gehören auch die kunstvollen Überhöhungen, die ins Reich der Sagen ausgreifen (und etwa Undine heraufbeschwören), die durch die Aufrufung von Nike, Phoenix oder etwa Sinai biblische sowie antike Motivwelten entwickeln oder gar den Kosmos mit einbeziehen. Und die immer wieder dafür sorgen, dass selbst moderne Technik sich sauber einfügt in diese Bildlandschaften, denn fährt man hier etwa im ICE, dann ist man, so natur- wie bibelnah, »im bauch / der weißen schlange / gefangen«.

Das persönliche Umfeld als Mittelpunkt – und dem grundsätzlichen Zauber hingegeben

Vom Berufsleben und vom gesellschaftlichen Leben der Autorin erfahren wir quasi nichts, eingegangen wird jedoch intensiv auf ihr persönliches Umfeld. Kinder, Eltern, Freunde erhalten sehr berührende Würdigungen. Was die Lyrikerin beschreibt, gründet im Eigenen, wird aber so weit abstrahiert, dass jeder Leser problemlos folgen kann. Und dies nicht nur das Beschriebene betreffend, sondern auch die Mittel der Beschreibung. Sie nutzt vorhandene Bilder – und gestaltet sie neu und um. Das macht das Lesen zugleich leicht und überraschend. Und dass Anja Ross, gerade wenn es um die dem Nachwuchs gewidmeten Gedichte im Kapitel »fischkind« geht, zuweilen auch mal ästhetisch zu kurz greift, zu sehr im Naheliegenden verhaftet bleibt, das verzeiht man sicherlich leicht (in »Klopfzeichen« etwa spürt die Mutter ihr Kind durch das Vibrieren ihrer Bauchdecke – das ist gewiss nicht falsch, aber so nun auch wenig neu, es ist eben hier einmal nur: Vertrautes sauber in Verse gegossen). Dafür gibt’s dann ausgerechnet in jenem Kapitel auch mal ganz harte und – allerdings nur auf den ersten Blick – unromantische Bilder, wie dieses vom »Familienausflug« (aus diesem Gedicht stammt auch die soeben zitierte weiße Schlange): »das kind kann nicht trinken / mir bersten die brüste / pumpe meine muttermilch / ins zugklo«.

Bestimmt aber wird auch die Mutterschaft in »fischkind« nicht von Alltagshindernissen, sondern vom grundsätzlichen Zauber, in der Beschreibung von Vertrautem ausgehend und über es hinausweisend, erhellend und spezifisch wie grundsätzlich in der Deutung. Ein Beispiel hierfür: das titelgebende Gedicht, das Janis gewidmet ist: »fischkind // in mir / schwimmt / ein kind / mit kiemen // ohrmuscheln / öffnen sich / hör / meinen lockruf // komm / an land«.

Besonders schön: Hier ergeben sich, wie öfters bei Anja Ross, die ja in einer in sich stimmigen Bilder- und Assoziationswelt dichtet, auch intertextuelle Bezüge. Denn das Gedicht »Rückkehr«, das auch im Buch steht, handelt noch vom Meer als Urlebens- und gefährlichen Sehnsuchtsort. Dort wird noch der Untergang der Romantik bemängelt, der Umstand, dass sie keinen Platz in der modernen Welt hat, nicht einmal bis zum eigenen Zuhause, dem Hort der Geborgenheit. Ross fragt klagend: »wer hört noch / undines ruf // bis an die haustür«.

Ich möchte ihr antworten: »Jeder, der Ihr Buch liest, Frau Ross, jeder der ›fischkind‹ verschlingt!« Wie könnte man auch nicht, bei solchen Versen wie den eben zitierten oder auch diesen hier aus »Loslassen«: »unsere kinder / tranken nachts / mondmilch«.

(jeh)


Leseproben


glut

hochofen
lange erkaltet
kein glühendes erz fließt
mehr von güterzügen über
steckt die böschung in brand

leere eisenwaggons
stehn still
haben am abend
untergehende
sonne geladen

* * *

umdeuten

das ahornblatt
im herbst
winkt nicht
zum abschied

es tanzt
im wind
es lacht sich
scheckig

* * *

weißer tag

kräne schemenhaft
am hafen fremde
große vögel

im blindgefrorenen see
ist ein auge eingerissen
in dem sich himmel spiegelt


Zur Autorin

Anja Ross wurde 1963 in Kiel geboren, wo sie heute auch wieder lebt. Ihr Studium der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte schloss sie mit einer Promotion über den Lyriker Rudolf Stibill ab. Seit 1993 veröffentlicht sie Lyrik, Prosa und journalistische Texte in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen. Sie gab mit Henning Ahrens und Verena Weisbecker die Literaturzeitschrift »WORT.« heraus. Sie ist die Tochter des Malerehepaares Dagmar Schulze-Roß und Alfred Roß.
www.AnjaRoss.de


Eckdaten zum Buch

Anja Ross
fischkind
gesammelte gedichte
Bd. 112 der Reihe »Poesie 21« (hg. v. Anton G. Leitner)
128 Seiten, Hardcover mit Fadenheftung
€ 14,80
Steinmeier (Deiningen), März 2023
ISBN 978-3-943599-99-2


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