Poetisches Passepartout: die berührenden Vater-Sohn-Erinnerungsstücke von Anton G. Leitner in »Vater, unser See wartet auf dich«

Eingestreute Kritik von Hellmuth Opitz

Vater und Sohn Leitner – beides Charaktere mit durchaus entflammbarem Temperament. Zwei Generationen, die sich fraglos Reibungsflächen boten, und diese innewohnende Dynamik ist unterschwellig in den Versen und Erinnerungsstücken des Bandes jederzeit spürbar. Ein Band, den der Sohn, der Dichter und Verleger Anton G. Leitner, unter dem programmatischen Titel »Vater, unser See wartet auf dich« jetzt veröffentlicht hat und der gleichzeitig ein poetischer Nachruf der besonderen Art ist. Denn Leitner wäre nicht der allgemein anerkannte Meister des Enjambements, hätte er nicht die beiden Worte »Vater, unser« in einer Zeile gefasst. Die Anspielung auf das christliche »Vater unser« ist gewollt, und wer da kritisch von religiöser Überhöhung spricht, dem sei die Fortsetzung des Titels noch einmal ans Herz gelegt: »unser See wartet auf dich« heißt es da. Gemeint ist der Weßlinger See, nur ein paar hundert Meter vom Leitner’schen Heim entfernt, zu dem Vater Leitner sommers nahezu täglich zum Schwimmen ging, wozu er durchaus auch im Bademantel die öffentlichen Verkehrsmittel nutzte.

Aber die fast sakral anmutende Anrufung des Vaters liegt durchaus in der Absicht des Poeten Leitner junior. Denn Leitner senior war ein charismatischer Lehrer und Schuldiraktor, geistig rege und überaus kommunikativ. Ein hellwacher Zeitgenosse, vielseitig interessiert, sprachbegabt und international kontaktfreudig. Als Anton Josef Leitner am 3. Mai des Jahres 2021 an den Folgen eines viel zu spät erkannten Schlaganfalls starb, war das in mehrfacher Hinsicht tragisch. Denn schon im Vorfeld machten sich gesundheitliche Eintrübungen subtil bemerkbar, die Corona-Zeit mit ihren Kontakteinschränkungen schlug auch auf die Psyche, der Schlaganfall schlug aufs Sprachzentrum dieses redegewandten Mannes. Am schlimmsten aber war, dass der Sohn dank der Corona-Politik der Klinik nur mit Bitten und Flehen Zugang zu ihm bekam, als der Vater final im Krankenhaus lag und es schlichtweg zu spät war. Ein Trauma, das zwischen den Zeilen oft mitschwingt.

Schockstille erst, schließlich anekdotenreiches Erinnern

Der Band ist so aufgebaut, dass die Tage nach dem Tod des Vaters gezählt werden, sporadisch wird eingehakt an manchen Tagen, oft illustriert von Fotos aus dem Familienalbum, über diesen Zeitraum wird der Leserschaft deutlich, wie sich auch die Trauer innerhalb eines Jahres wandelt – von der Stille nach dem Schock des Todes bis hin zur anekdotischen Charakterzeichnung ein paar hundert Tage später. Apropos Charakter: Anton Leitner junior ist sich sehr bewusst, dass da noch viel Ungesagtes zwischen Vater und Sohn steht bzw. stand, vielleicht gerade deshalb schlägt er etwa schon zu Beginn kräftige lyrische Pflöcke in Sachen »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« ein.

Wurzelstock

Noch so viel
Ungesagt

Zwischen uns
Dein offenes

Ohr für alle
Anderen.

Ihr Kummer,
Dein Kümmern

Deine Fürsorge
Keine Vorsorge

Für dich
Für mich

Für uns –
Die ganze

Familie.
Wir zwei

Dasselbe
Holz. Hart-

Holz. Kopf-
Über

Gestolpert.
Über den

Stumpf.
Verstummt.

Eine lyrische perfekte Inszenierung vom langsamen Wachstum eines Wurzelstocks. Die spärlichen Worte umkreisen das Ungesagte, stehen auch für das Störrische des harten Holzes. Deutlicher und konkreter werden da schon die Erinnerungsstücke, die Anton Leitner in verdichteter Prosa verfasst hat. Das Gute daran: Es sind eben nicht nur Anekdoten oder Schnurren über die Gewohnheiten und Eigenschaften des Charakterkopfes Leitner senior, da finden sich auch Berichte über die letzten Tage des Vaters ebenso wie das traurige Brezn-Frühstück mit der nun verwitweten Mutter, das wie ein Lied mit dem Refrain »S’is nimmer schee« aufgebaut ist. Natürlich enthält der Band auch einiges an skurrilem Schmunzelstoff, wie die Geschichte von dem Morgen, an dem der Vater bei bitterkalten Temperaturen nur spärlich bekleidet das »Blättle« von draußen reinholen wollte und der Sohn – vom gleichen Lausbuben-Schlag wie der Alte – die Haustür schloss, worauf sich der Vater Frostbeulen und eine blutige Faust vom Hämmern gegen die Tür holte.

Stoßseufzer einer nachgerufenen Liebe

Wie ein poetisches Passepartout legen sich diese Erinnerungsstücke um die Vaterfigur, sie bilden einen Rahmen, aus dem die Gestalt des Vaters umso plastischer, nahezu sinnlich erfahrbar tritt. Oft beginnen diese Erinnerungsstücke, die satztechnisch wie Erinnerungsstelen aufgebaut sind, mit Formulierungen wie »Wenn du heute noch auf der Welt wärest« oder »Vater, was gäbe ich dafür« – es sind Stoßseufzer einer nachgerufenen Liebe, Ausdrücke eines empathischen Bedauerns, nicht noch mehr Vater-Sohn-Gespräche geführt zu haben. Aber auch so wird in diesem formidablen Erinnerungsband deutlich, was für ein Mensch Anton Josef Leitner war. Ein umfassend humanistisch gebildeter Mensch, ein urbayrischer Schuldirektor, ein feiner »Direx«, auf den das Wort »human« zutraf wie auf nur wenige.

Ich habe ihn selbst noch kennenlernen dürfen. Es war 2014, als Mitherausgeber der GEDICHT-Ausgabe 22 (»Der Swing vom Ding«) hatte ich mit Anton junior bis spät nachts an der Schlussredaktion gesessen. Die Busse fuhren schon längst nicht mehr. Da erklärte sich Anton senior freundlicherweise bereit, mich noch zum Gasthof Schuster im nächsten Dorf zu fahren. Als im Gespräch herauskam, dass auch ich auf einem humanistischen Gymnasium gewesen war, blühte er gleich auf. Wir kamen auf den lateinischen Dichter Catull und ich begann, sein berühmtes Gedicht »Da Mi Basia Mille« (Gib mir tausend Küsse) zu zitieren. Als ich beim Gasthof ausstieg, sagte Leitner Senior mit einem feinsinnigen Lächeln: »Ja, der Catull. Der konnte auch anders.«



Anton G. Leitner

Vater, unser See wartet auf dich
Erinnerungsstücke und nachgerufenen Verse

Mit einem Vorwort von Ulrich Johannes Beil
Mit 17 Fotos aus dem Privatarchiv von Anton G. Leitner
Hardcover mit Lesebändchen

112 Seiten, 12,5 x 21,0 cm
€ 20,00 [D]
ISBN 978-3-929433-39-5

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