Unterm Radar: Vier beachtenswerte Gedichtbände aus der letzten Zeit

Eingestreute Kritik von Hellmuth Opitz zu: »Schemen« von Antje Doßmann, »Immer was zu knabbern« von Michael Augustin, »Zum ersten Mal die Kraniche« von Klára Hůrková und »Zweite Person, Singular« von Matthias Engels

Die meisten Gedichtbände fristen ihr Dasein im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die wenigen Lyrik-Rezensionen, die es gibt, fokussieren sich auf bestimmte Feuilletonfavoriten, also die Bücher von jenen Dichter*innen, die, ob verdientermaßen oder nicht, ganz insgesamt mehr Beachtung bekommen als andere. In der Konsequenz fallen andere Poet*innen mit ihren neuen Bänden unverdientermaßen durchs publizistische Raster: Es lohnt sich genaueres Hinsehen, man kann echte Entdeckungen machen! Vier solche Entdeckungen seien nachfolgend kurz vorgestellt. 

»Etwas / wie Hunger / nagte an uns, / seit wir die Wälder / verlassen hatten«, so beginnt eines der Gedichte der Bielefelder Kulturjournalistin Antje Doßmann. Es beschreibt eine Art Waldsehnsucht – »aus den Wäldern / kam etwas / wie Hoffnung« heißt es dort auch. Die Natur wird hier als Schutzraum gesehen,  als letzte Zuflucht vor der Gegenwart und ihren Zumutungen. »Wir fanden«, lautet es in dem Gedicht weiter, »kaum noch ein Kraut […] gegen die Welt / und ihre Bedeutung«.  Aber sie, die Natur bzw. der Wald halten Ressourcen für uns bereit, so Doßmann: »etwas von dort / macht uns aus / trägt uns / durch“. In ihrem Debütband »Schemen« versammelt Antje Doßmann 50 Gedichte, die in fünf fein konzeptionierte Kapitel einsortiert sind. Kapitel eins umfasst Gedichte, die im weitesten Sinne Naturliebe und Klimawandel thematisieren, in Kapitel zwei kommen Kindheitserinnerungen zum Tragen, z. B. aus Doßmanns Geburtsstadt Berlin, Kapitel drei erlaubt einen genaueren Blick auf Tiere, Pflanzen, Früchte, in Kapitel vier stößt man auf präzise Porträts einzelner Menschen, menschenscheue Einzelgänger, darunter Orchestermusiker, und in Kapitel fünf verortet Antje Doßmann ihre Gedichte in historischen und weltanschaulichen Zusammenhängen. Jedes dieser Kapitel wird durch eine Digitalfotografie der Künstlerin Stefanie Schwedes eingeleitet, was dem Band auch eine visuelle Zartheit und Spannbreite verleiht.

Auffällig ist die Gestalt der Gedichte: kurze Verse, die zu einem meist vertikalen Aufbau führen, sodass die meisten Gedichte etwas Stelenartiges aufweisen, Baumstämmen ähneln. Die eingangs erwähnte Waldsehnsucht findet also auch satztechnisch ihre Entsprechung. Etwas traumwandlerisch Schwebendes haben diese Gedichte allesamt, dabei sind sie genau komponiert und subtil gereimt, wie auch das wunderbare Titelgedicht: »so zerfällt mir dieser Ort / und was wir hatten, / doch ich bliebe / hier für immer / sehend auf den / dunklen Wegen, / käm dein Schatten / mir entgegen / mit Licht / und einem letzten / Wort – // ich liebe«. Schrecken und Schönheit sind in der Poesie von Antje Doßmann auf zauberhafte Weise gebannt.

Antje Doßmann, Schemen, Gedichte, Dr. Ziethen, 20,00 €


Wer erinnert sich nicht hat an die vielseitigen Fernseh-Knabbermischungen, die einst auf jeden Wohnzimmertisch gehörten? Unter einer signalstarken Appetizer-Folie verbarg sich eine Vielzahl von Boxen und Nischen, in denen sich Chips und Flips, Salzstangen, Erdnüsse und Fischlis tummelten. Etwas ähnlich Multifunktionales muss sich Michael Augustin, in Bremen lebender Meister poetischer Miniaturen, gewünscht haben, als er im letzten Jahr nach einem Titel für den zu seinem 70. Geburtstag edierten Auswahlband an Gedichten, Kurzprosastücken, Aphorismen und eben Miniaturen suchte.  Der Virtuose der kleinen Form betitelte den Band kurzerhand »Immer was zu knabbern«, und beim Lesen geht es einem wie beim Genießen von Chips – hat man erst einmal angefangen, kann man nicht mehr aufhören. »Achtung Leser!« warnt entsprechend auch ein Gedicht über ein Gedicht: »Im Gegensatz / zur herkömmlichen Poesie / enthält dieses Gedicht / keine Konservierungsstoffe«, danach folgen ein paar Hinweise zu Aufbewahrung und Haltbarkeit, um in der letzten Strophe zur sofortigen Lektüre aufzufordern: »Am besten aber / du liest es gleich. / Dann bist du schon mal / eine Sorge los.« Kernige Sätze mit wertvollen Handlings-Anweisungen. Überhaupt: Gedichte zum Umgang mit Gedichten finden sich viele in dem kompakten Band, darunter auch solche, die Poesie einer realistisch-kühlen Lagediagnose unterzieht.

»Wie es so geht« heißt die Analyse, die so beginnt: »Den Gedichten geht es heute erheblich besser und schlechter. Sie werden eindeutig von mehr oder weniger Leuten gelesen. Den meisten Passanten sind Gedichte völlig egal, Lehrern, Redakteuren und Buchhändlern sind sie noch egaler.« Gekonnt verknüpft der Text dabei seine Null-Aussagen mit scheinbaren »Klarwörtern« wie »erheblich«, »eindeutig« oder »meiste«, die sich in diesem Zusammenhang auch nur als nichtssagendes Füllmaterial erweisen. So geht es weiter, am Schluss gibt es noch einen schönen Seitenhieb auf Berlin, wohin sich Poeten und Poetinnen, die sich für relevant halten, wie zu einem Wallfahrtsort bewegen: »Alles reimt sich auf Berlin. Was sich nicht auf Berlin reimt, reimt sich nicht. Es reimt sich einiges, das sich nicht reimt.« Neben diesen literaturbetrieblichen Konzentraten gibt es auch jede Menge Kurz- und Kürzestgedichte, lyrische Snacks zum Sofortverzehr, wie etwa »Die toten Mücken / auf meiner Windschutzscheibe: / Sie jucken mich nicht.« Man ahnt schon, welche Argumente Vertreter des Hochfeuilletons gegen diese Poesieform ins Feld führen: reine Unterhaltung, Flachwitz, auf Pointe hin geschrieben, Effekthascherei. Dieser gleichfalls flachen Argumentation ist entschlossen entgegenzutreten: In jeder dieser lyrischen Finessen von Michael Augustin steckt in gleichem Maße Haltung, präzise Beobachtungsgabe, Wortökonomie und jede Menge norddeutscher Humor. Und das ist allemal mehr als die anämische, staubtrockene, aber dafür vielbesprochene Lyrik mancher Feuilletonfavoriten zu bieten vermag.

Michael Augustin, Immer was zu knabbern, Ausgewählte Gedichte & Miniaturen, Edition Temmen, 12,90 €


Mit Nachrufgedichten ist das so eine Sache: Die Gedichte, die jemand schreibt, der von einem schmerzlichen Verlust betroffen ist, sind verständlicherweise von großen Emotionen gespeist, die weitaus mehr als bloße Stimmungen sind. Eine überwältigende Trauer herrscht vor, die oft ebenso lähmt wie sie danach verlangt, zum Ausdruck gebracht zu werden. Es gibt verschiedene Arten von Nachrufgedichten, z. B. solche Lyrik, die der Nachwelt die verstorbene Person mit ihrem Charakter   vorstellen möchte, sie mit ihren Eigenarten präsentieren, damit sie nicht dem Vergessen anheimfällt. Anton G. Leitner hat mit seinem Gedichtband »Vater, unser See wartet auf dich« und den darin enthaltenen Erinnerungsversen hier ein Paradebeispiel geliefert. Andere Gedichte geben der Trauer mehr Raum, sie beleuchten mehr noch den eigenen Schmerz ob des Verlusts der geliebten Person. Der/die Verstorbene taucht darin immer als Teil eines gemeinsamen Lebens auf, der mit einem Mal fehlt. Die tschechisch-deutsche Lyrikerin Klára Hůrková hat gerade ihren neuen Gedichtband »Zum ersten Mal die Kraniche« veröffentlicht, der ganz klar auf dieses Motiv einzahlt. Sie hat im Januar 2023 ganz plötzlich ihren Ehemann verloren, und die Gedichte des Bandes zeigen das erste Jahr –  vom Verlustschock bis zum zaghaften Loslassenkönnen. Das erste Jahr ist besonders schlimm, weil der/die Zurückgelassene alles zum ersten Mal allein erlebt, was einst eine gemeinsame Erfahrung war. Der erste Frühling, die erste Reise ohne den anderen. Und natürlich »zum ersten Mal die Kraniche«, wie schon der Titel des Bandes sagt und auch ein Gedicht heißt. Ein anderes Gedicht stellt grundsätzliche Fragen: »Kann ich noch in dieser Welt leben / in der wir jeden Zentimeter / zusammen erkundet haben«, fragt es und gibt wenige Verse später preis, welche Details es sind, die die Erinnerungsschübe der Poetin Hůrková auslösen: »Die beiden Kieselsteine / aus der Normandie / deine alten Hausschuhe / die ich nicht wegwerfen kann / deine Widmung an mich / in deinem Philosophiebuch / statt eines Liebesbriefs / ein paar Worte / in deiner zierlichen Handschrift / so stark / und leuchtend«.

Der Dichterin ist klar: Die großen Emotionen werden durch Kleinigkeiten ausgelöst. Und auch die Persönlichkeit des verstorbenen Mannes wird dahinter sichtbar: ein sanftmütiger, zurückhaltender Philosoph und genau beobachtender Naturliebhaber. Die 24 Gedichte des Bandes sind datiert und chronologisch angeordnet, so dass man als Leser die ersten zehn Monate des Trauerjahres gut nachvollziehen kann. Erstaunlich farbenfrohe Acryl-Pastell-Illustrationen der Autorin akzentuieren den Band visuell, Klára Hůrková erklärt dazu: »… aber dann habe ich gesehen, dass die Farben in mir noch lebten.« Also kein schwarzer Trauerrand. Die Sprache ist einfach, aber eindringlich, die Bilder sind klar und einleuchtend, keine Hermetik verrätselt das unmittelbare Trauergefühl. Es ist ein Band, der seine Leser emotional mitnimmt und gleichzeitig auch künstlerisch überzeugt. Im ersten Gedicht, das gerade mal 14 Tage nach dem Tode ihres Mannes entstanden ist, ruft Hůrková ihm nach: „Hast du die grenzenlose / Liebe erfahren / von der die Gläubigen / träumen? / Bist du erleichtert? / Bist du bei Gott? / Sind wir noch / zusammen?« Herzzerreißend schön. 

Klára Hůrková, Zum ersten Mal die Kraniche, Gedichte, Pop, 15,50 €


Die vom Schriftsteller Jürgen Brôcan herausgegebene Edition Offenes Feld ist eine verdienstvolle Reihe, die Lyriker*innen aller möglichen Stilarten eine poetische Spielwiese bietet, ein, wie der Name der Reihe schon sagt, offenes Feld. Äußere Kennzeichen der Edition sind die künstlerische Aufmachung der Bände und das oft quadratische Format.  Vor einiger Zeit veröffentlichte dort auch Matthias Engels seinen Band »Zweite Person, Singular« (zugegebenermaßen also eine späte Rezension). Matthias Engels, geboren am Niederrhein, lebt mittlerweile im Münsterland und hat neben seinen eigenen Werken u. a. die Anthologie »Vom Frieden« mit herausgegeben, in der sich 37 westfälische Autor*innen mit dem Thema befassen. Zudem ist er Herausgeber und Chefredakteur der westfälischen Literaturzeitschrift »Sentimentale Eiche«, die zweimal im Jahr in einer Auflage von genau 100 Exemplaren erscheint.

Der Titel »Zweite Person, Singular« deutet bereits an, an wen sich die Gedichte wenden, an ein Du, das aber, man täusche sich nicht, auch ein Ich oder Wir sein kann, wenn man sich etwa im Spiegel der eigenen Herkunft und Jugend betrachtet, wie es in Engels’ Startgedicht »Grenzgesang« geschieht: »wir möhrengemüsekinder / an uns schrie alles provinz / die kreisstadt war metropole / die kirsch-cola-dose vom discounter heiliger gral / uns verwandelnd in jimmie deans jüngere brüder / lässig auf dem bordstein unweit unserer grundschule / im zeichen st. georgs«. In sieben Strophen entwirft das Gedicht u. a. das Szenario einer Klassenfahrt nach Berlin, der Hauptstadt der Coolness. Eine Coolness, die man als Dorfgymnasiast nur ehrfürchtig bestaunen oder krampfhaft zu imitieren versuchen kann. Die Provenienz aus der Provinz wird aber man nur schwer los, wie auch die letzte Strophe belegt: »wir polyglotten kosmopoliten / bei jedem nun routinierten grenzübertritt / bleibt die provinz als wasserzeichen in den pässen / doch immer noch schaut man beim händewaschen / ab und zu kurz auf zum spiegel / trifft für sekundenbruchteile jimmie deans blick / und grüßt verschämt zurück«. Ein minimaler Abglanz von Coolness ist also auch hier drin.

Engels gelingt es allgemein, durch kühne Verknüpfungen überraschende Zusammenhänge herzustellen, wie in dem Gedicht »Blindes Huhn«, wo die leeren Kentucky-Fried-Chicken-Kartons auf dem Grünstreifen plötzlich mit der Enthauptung des Piraten und Freibeuters Klaus Störtebeker kurzgeschlossen werden. Seinerzeit wurde vereinbart, dass, wenn es Störtebeker gelänge, trotz Enthauptung noch einige Schritte zu laufen, alle aus seiner Mannschaft, die er passiere, freigelassen würden. Störtebeker schaffte es, an zwölf Mann aus seiner Crew vorbeizulaufen – bevor der Henker ihm ein Bein stellte. Und nun verbindet Matthias Engels diese Geschichte mit den geköpften Hühnern, die für die Chickenteile von KFC herhalten müssen: »ein fallender bestenfalls / der fragt wie weit gehen / ohne kopf auf dem hals / noch lachen die hühner …« Zufälligkeit und verworrene Buntheit attestiert in seinem kundigen Nachwort der Kritiker und Autor Patrick Wilden dieser Sammlung von Gedichten, ich würde als roten Faden dieses Bandes eher so etwas wie lyrische Ich-Erkundungen sehen, autobiographische Details von Landschaft, Provinz, Jugend, das Ausprobieren unterschiedlicher Identitäten. Dafür sprechen auch die unterschiedlichen Biographien, die Matthias Engels gegen Ende des Bandes aufführt. Er stellt kurz und kompakt das Leben, Wirken und Sterben von Namensvettern vor, also von authentischen Menschen mit Namen Matthias Engels. Ihre Schicksale umfassen eine Zeitspanne von 1727 bis 1942. Er selbst stellt sich damit in eine Tradition, und das ist so faszinierend wie ungewöhnlich. Matthias Engels hat mit »Zweite Person, Singular« einen Gedichtband verfasst, der in seinem Facettenreichtum absolut überzeugt, die Bilder von Marlies Blauth mit ihrer illustrativen Plastizität sind dazu die perfekte Ergänzung.   

Matthias Engels, Zweite Person, Singular, Gedichte, Edition Offenes Feld, 20,00 €



 

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