Leise Töne und laute Auftritte: DAS GEDICHT 31 und »Vater, unser See wartet auf dich« im Lyrik Kabinett vorgestellt

ein Lesungsbericht von Jan-Eike Hornauer (Text und Fotos)

München. Lyrik kann ganz leise, Lyrik kannn aber auch richtig laut sein. Sie kann – ja schlichtweg alles abbilden, und dies eben auch akustisch betrachtet. Von zarten meditativen Versen, etwa zur Welteinsamkeit des Menschen von Friedich Ani, ist es da manchmal nur ein kurzer Schritt bis zu brüllenden Eruptionen, zum Beispiel wenn sich Georg »Grögg« Eggers tobend in rasend amüsanten Reimen über Frührentnernachbarn mit Laubbläsern echauffiert.

Die beiden Herausgeber von DAS GEDICHT 31 »Laut & leise« geben im Lyrik Kabinett Einblicke in ihre editorische Werkstatt: Anton G. Leitner (links) und sein diesjähjriger Co-Herausgeber Frank Klötgen.

Eindrucksvoll zeigte sich, wie sehr am lyrischen Lautstärkeregler gedreht werden kann, bei der Doppelbuchvorstellung am vergangenen Mittwoch, 29. November 2023, im Lyrik Kabinett. Dort feierte nämlich die Ausgabe 31 der buchstarken Jahresschrift DAS GEDICHT Premiere – und diese trägt eben den Titel »Laut & leise«. Präsentiert wurde sie von den Herausgebern Frank Klötgen, Bühnenpoet und Ensemblemitglied der »lach+schiess« (ehemals »Münchner Lach- und Schießgesellschaft«), und Anton G. Leitner sowie dem Editor des längst alljährlich enthaltenen thematisch passenden Kinderlyrikteils Uwe-Michael Gutzschhahn, der auch durch den Abend leitete, sowie 14 weiteren Autorinnen und Autoren, die ihre eigenen Beiträge und teils noch weitere Verse aus dieser Ausgabe, herausgesucht von Gutzschhahn, lasen.

Führte durch den Abend: Uwe-Michael Gutzschhahn, der Editor des Sonderteils »Lyrik für Kids« auch im neuen DAS GEDICHT.

Außerdem stellte DAS GEDICHT-Stammherausgeber Anton G. Leitner auch seinen Anfang des Jahres erschienenen Solo-Band »Vater, unser See wartet auf dich« vor, in dem er die Trauer um den Tod seines Vaters verarbeitet. Hier zeichnet er mit Erinnerungsstücken bewegend und humorvoll ein Portrait des 2021 verstorbenen ehemaligen Gymnasialdirektors Anton Josef Leitner, spürt ihrer zeitlebens engen und insbesondere in des Juniors Jugendjahren durchaus reibungsreichen Beziehung nach und zeichnet anekdotensatt ein so zärtliches wie humorvolles Bild des geliebten Seniors – in dem sich zugleich auch ein Stück bundesrepublikanische Zeitgeschichte widerspiegelt. Am Lesungsabend wurde dabei auch hier deutlich: Das Laute steht ganz nah neben dem Leisen.

»Ein beeindruckender Charakter«

Das erste Gedicht des Abends, das zweite des Bandes etwa beginnt: »So still // Das Haus / Ohne dich / Mein Vater«. Und laut wurde es beispielsweise, als in »Vater als geölter Blitz« der Anton junior als Kind in einem Lausbubenstreich den Senior beim Zeitungholen am Briefkasten aussperrt – und diesen trotz spärlicher Bekleidung und Eiseskälte nicht wieder hineinlässt, bis jener sich, laut brüllend, die Faust am Gitterglas der Haustür, das er dabei eindrückt, blutig geschlagen hat. Und beide Aspekte, laut und leise, zeigten sich etwa bestens vereint in »Dancing Lesson«. Hier geht es um den nachgerade klassischen Konflikt zwischen Jugend- und Elterngeneration beim Musikhören: Dem Vater sind die Beatles zu laut, der Sohn meint, leiser könne man sie nicht drehen. Also kommt es erst zum Knall, und dann erhält der Sohn Around-Ear-Kopfhörer. Diese Ruhe nun gibt dem Vater wiederum den Raum, sich letztlich, auf einer Party, doch noch den Yeah-yeah-yeah-Klängen des Sohnes anzunähern – sodass schließlich ruhige Harmonie zwischen beiden entsteht, ausgerechnet mitten im Partygetöse.

»Was ist das Besondere an diesem Erinnerungsbuch?«, fragte Ulrich Johannes Beil, Lyriker, emeritierter Germanistikprofessor und alter Weggefährte Anton G. Leitners, in seinen einleitenden Worten zur kurzen Solo-Band-Vorstellung. Und er gab gleich selbst die Antwort: »Viele Mütter- und Väterbücher sind Abrechnungen.« Hier aber werde der Vater durchaus positiv, manchmal gar vorbildlich gezeigt. Man sehe einen »beeindruckenden Charakter«. Und dass dieses Buch, in seinem »wilden Genremix«, dabei das Vorbild, also Anton Josef Leitner, treffe, könne er bezeugen, erklärte Beil: »So habe ich ihn auch kennengelernt: als hochgebildeten, polyglotten Grandseigneur der Altphilologie, der immer ein Bonmot auf den Lippen hatte«, dem es aber auch an Ecken und Kanten nicht gefehlt habe.

»Gedichte haben eine Macht«

Poesie als Trost, als Hilfe, das funktioniert dem Moderator, Uwe-Michael Gutzschhahn, zufolge nicht nur aufs Private, sondern auch auf die Weltlage bezogen. »Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!«, mit diesen Worten aus Brechts »An die Nachgeborenen« eröffnete er den Buchpremieren-Abend zu DAS GEDICHT 31 im voll besetzten Lyrik Kabinett. »Es ist nicht zu begreifen, dass es 80 Jahre nach dem Genozid einen Überfall auf Israel gibt.« Zugleich mahnte er aber auch an: Rache sei ebenfalls nicht richtig. Die Kraft der Poesie beschrieb er gerade vor dem schrecklichen Hintergrund der Geschehnisse in Nahost so: »Gedichte können das Schlimme nicht verhindern, aber sie können den Glauben an uns befördern.«

Er betonte, nun auf »Laut & leise« bezogen, die neue DAS GEDICHT-Nummer: »Gedichte haben eine Macht.« Daran habe er bei dem Ausgaben-Titel, der ihn unwillkürlich an Jandls berühmten Gedichtband »Laut und Luise« gemahnt habe, sofort denken müssen. Schließlich sei die Erstauflage jenes Bandes aufgrund bloß eines einzigen Verses (ein langgezogenes »Jesus« gab den Ausschlag) vom Verlag nur wenige Tage nach Auslieferung wegen »unerträglicher Provokation« wieder eingezogen und eingestampft, der zuständige Lektor, Otto F. Walter, entlassen worden. Klar, Gedichte wirkten nicht immer so machtvoll – aber zuweilen könnten sie eben doch. »Und das ist schön zu wissen«, schloss Gutzschhahn.

Harmonie bei der Auswahl zum neuen DAS GEDICHT

Im Herausgebergespräch wollte er zunächst von Leitner wissen, wie es gewesen sei, nach einigen Jahren Soloherausgeberschaft, wegen der Corona-Pandemie und eigener gesundheitlicher Probleme (Lungenembolie, Herzinfarkt), nun wieder wie früher gewohnt mit einem Co-Herausgeber zusammen die eingesandten Gedichte zu sichten und auszusortieren. »Sehr fein!«, antwortete Leitner strahlend. Und verwies darauf, dass in die Redaktion auch noch Gabriele Trinckler, seine Verlagsassistentin, und die Verlagspraktikantin Julia Kleemayr aus Berlin, eingebunden waren, man also letztlich als Team agiert habe.

Klötgen betonte die Harmonie bei der Auswahl: »Es war für mich ein Wunder, wie einig wir uns waren.« Dies gelte umso mehr, da man an sich ja durchaus für unterschiedliche Dinge in der Lyrik stehe.

Viele neue Stimmen – auch als Hommage an Axel Kutsch

Dass die Auswahl letztlich nicht nur einmütig verlaufen, sondern auch gelungen ist, stellte Gutzschhahn heraus: »Ich bin unglaublich begeistert darüber, was da drin ist!« Bemerkenswert sei hier insbesondere: »Es sind ganz, ganz viele Leute dabei, die keinen Namen haben.« Dies zeige, »was für ein ungeheures Potenzial« es bei jenen Poetinnen und Poeten gebe, von denen man noch nichts oder erst wenig gehört habe.

Bewusst habe man in diesem Jahr den Fokus noch mehr geweitet als sonst schon, erklärte Leitner dazu. Dies sei als Hommage an seinen Herausgeberfreund Axel Kutsch zu verstehen, der in diesem Jahr einen schweren Schlaganfall erlitten habe und nie mehr zu seiner angestammten Tätigkeit zurückfinden könne. Dessen Credo, das er etwa in seiner »Versnetze«-Reihe umgesetzt habe, sei stets gewesen: »Ohne Basis keine Spitze.«

Gedämpfter Beginn in der Zivilisation: der abgeschiedene Mensch

Den Reigen der 17 vortragenden Dichterinnen und Dichter eröffnete hingegen gerade keine Unbekannte: Sabine Schiffner trug ihr »istanbuler laute« vor, eine Hafenszene mit Frachtschiff-Tuten und Hundegebell und doch auch einer mithin traumhaften, nebelumhüllten Ruhe. Passend dazu brachte sie auch noch, wie alle Fremdgedichte von Gutzschhahn herausgesucht und zugeordnet, »geflochtene zeit« von Christoph Leisten, ein poetisch-meditatives, das Grundsätzliche, das menschliche Leben und wie man ihm begegnen kann aufgreifendes Stück. »lies das licht auf den fliesen / der dämmerung«, fordert er hier etwa, und: »hab / hoffnung unter der nacht.«

Noch ruhiger, ja stumm wurde es dann bei Ulrich Johannes Beil: Von der Auflösung des Raums, dem Verschwinden aller Geräusche, der Sterblichkeit des Menschen auch in der modernen Welt handelt sein »Fort«, das konkret den Tod der Mutter verarbeitet. Dazu brachte er Heinz Peter Geißlers »die leisen tiere«, in dem es um die Sprache selbst geht, mit einer augenzwinkernden Leichtigkeit und doch einem ruhigen Ernst: »inzwischen sind die Tiere so leise, dass sie in die Wörter hinein- / kommen, sie schlüpfen zwischen Doppelkonsonanten / wie durch eine Jalousie«, heißt es da etwa.

In den Rhythmus der heimatlichen Abgeschiedenheit nahm dann Kathrin Niemela mit. Ihr »tonspur«, das erst postuliert, »die stille hat den song verstimmt«, um dann unter andrem im tropfenden Wasserhahn wieder Rhythmus zu finden, weitet nebenher auch den Begriff von laut und leise übers rein Akustische hinaus, wenn es zum Beispiel sagt: »der damalsduft riecht lauter als / die überreife frucht auf dem tisch«. Abgerundet wurde ihr Auftritt durch Sujata Bhatts Naturbeobachtung »Der Kleiber« – die nicht nur ein besonderes Tier beschreibt, sondern auch aufs Angenehmste den Menschen in Beziehung zur Natur setzt, eine Ruheübertragung zeigt, tiefen Frieden.

Raus ins Laute – und auch ins Komische

Richtig Schwung gab’s mit David Westphals »Lass mich ersaufen«, hier wurde auch erstmals die Lautstärke nach oben gedreht. Warum laut und nicht leise? Westphal lieferte hierzu eine nachvollziehbare Begründung: »Ich hatte nach der Pandemie überhaupt keine Lust auf leise Töne, deshalb kracht’s jetzt.« Und in der Tat, sein bierhaltiges Poem, kraftvoll vorgetragen, rüttelte so richtig auf und setzte einen gelungenen Kontrapunkt. Mit »Protest« trug er außerdem noch ein Gedicht von Nora Gomringer vor – in ihm geht’s um die politische Aktion und darum, dass selbst sie ganz egal wird, wenn die private Katastrophe, hier die schwere Erkrankung des Vaters, einen ereilt. Da schlägt dann das Stille mühelos das Laute – und auf schreckliche Weise.

Wie Spaziergänge ganz leicht gelingen können, zeigte Noha Abdelrassoul auf. In ihren beschwingten, positiven Versen rät sie etwa: »Ein Klavier im Musikladen sich zu eigen machen.« Wie einen Sorgen verrückt werden lassen können, legte sie danach mit Uwe Kolbes »Den Regen zu hören« dar: Den Niederschlag zu hören, wenn es gar keinen gibt, ihn als andauernde Bedrohung im Ohr zu haben, das ist, nachvollziehbar, nervenzehrend.

Das langsame Erwachen der Welt, die Noch-nicht-Festgelegtheit des anbrechenden Tages, in den erste Geräusche hineinschallen und dem noch gilt »die Zeit hält inne«, beschrieb Uwe-Michael Gutzschhahn in seinem Erwachsenengedicht »Frühmorgens«. Vergleichbar meditativ gestaltete sich auch das – dabei allerdings mit ganz eigenem Witz versehene und in ein durchaus schummrigeres Licht getauchte – »Zimmer 759« von Friedrich Ani, das er ebenfalls vortrug. Hier geht es um die Weltentfremdetheit des eigenen Ichs, dem nur sein Schatten zur Unterhaltung bleibt.

Mit seinen beiden Kindergedichten stellte Gutzschhahn dann ein lautes Poem einem leisen gegenüber: »Vom Wispern im Baum« berichtete er erst, und dann brachte er rhythmisch und akzentuiert den nicht nur dem Namen nach extrem liednahen (und somit auch an die Wurzel der Lyrik heranreichenden beziehungsweise unmittelbar von ihnen gespeisten) »Basstölpel-Sonng« dar.

Durch »Das große Spechtakel« schloss ich mit gefiederten Versen an: Hier geht es, mit Reim, Rhythmus und Humor, um die Ehe zweier Spechte, die unterschiedliche Erwartung von Männchen und Weibchen an jene – und darum, wie das alles sich auf ihre Nachbarn auswirkt. Und in meinem Kinderpoem »Laut und leise, kreuz und quer« habe ich dann schließlich Geräusche und Verursacher durcheinandergebracht, erst noch halbwegs dezent, dann ganz grotesk: » Ein Glas zerspringt und maunzt dezent, / die Katze klirrt und guckt verpennt.«

Unter dem Titel »Take a photo, take a klick« brachte Anna Münkel eine Parodie auf den Selfie- und Social-Media-Wahn unserer Zeit, stark lautmalerisch ausgelegt und, absolut themagemäß, mit zügigen Wiederholungen arbeitend. Etwa werden »klick« und »tippst« stets dreimal hintereinander eingesetzt – das gibt Schwung und zeigt doch auch die nervige Redundanz des Gegenstands. Ebenfalls als stark lautlich ausgelegt und im Satirischen verhaftet erwies sich das von ihr vorgetragene Fremdgedicht: Ulrich Becks »Knallerklagen«, das sich, so kurz wie explosiv, mit der Frage des Böllerverbots zu Silvester beschäftigt.

Stiller Paarmoment und laute Kapitalismuskritik

Zarte Romantik kam bei Josef Brustmann auf. »Drübergelaufen übers dünne Eis«, nur um ihn mit Kuss zu begrüßen, war in seinen berührend zarten Versen eine Leichtbekleidete im Winter. Von dieser idyllischen Abgeschiedenheit ging’s dann mit seinem Kollegenpoem von Horst Bingel in die entfremdete Abgeschiedenheit des Menschen, vom privaten Glück zu globaler Dystopie und Kapitalismuskritik. »wir ziehen den fischen die Kiemen lang«, heißt es etwa in seinem »Felsenmeer« – und dass wir dabei letztlich durchaus selbst die Leidtragenden sind. Zweifellos ein wuchtiger Schlusspunkt vor der Pause.

Die Stille mit Kuchen kräftigen und die Kreissäge im Kopf aushalten

Nach ihr ging es wieder ruhig weiter: In »Der Stille geht es nicht gut«, einem so leisen wie skurrilen und zugewandten kleinen Lyrikstück, bringt Frieda Freytag der schwächlichen Stille Kuchen und kümmert sich auch ansonsten um sie. Größtmögliche Ruhe bot sie dann mit Wolfgang Schiffers »Ich sitze still« dar, in dem jener »geräuschlos […] noch in der Haut« sein will, als quasi aufgelöster Beobachter nur Kleinstes und Alltäglichstes aus der Natur in sich aufnehmen möchte, wie das Prasseln von Regen auf Blätter.

Jürgen Bulla entführte auf den »Dorothenstädtischen Friedhof«. Während einer naturgemäß lauten Klassenfahrt, so erläuterte der Gymnasialdeutschlehrer, habe er einen ruhigen Ort gesucht – und sei ebendort, auf jenem Friedhof gelandet. Allerdings, er habe nicht berücksichtigt, dass ja »die halbe deutsche Intelligenzija dort begraben« liege und dort folglich andauernd Besuchergruppen herumgeführt werden. Nun, ebendieses Nebeneinander von aufgeregtem Geschnatter und der Stille des Ortes zeigte er denn auch in seinem Gedicht. Außerdem las er »Leben« von Ilma Rakusa – eine kurze, pointierte Meditation übers Leben an sich und seine wesentlichsten Bestandteile.

Wie der Schnee alles schluckt, wie er angenehm isoliert und einen ganz bei sich sein lässt, beschrieb Frank Klötgen in »Reines Weiß«. Hochversöhnlich, ja schon besinnlich schließt es: » Und es schneit. Und schneit und schneit. Und schneit / Und alles wird zur Kleinigkeit«. Zu seiner bekannten Sprachartistik, zur komischen oral Poetry fand der Slampoet dann in »Ambulante Behandlung (vom Nähen einer Wunde)«.

Hier anschließen konnte Heike Nieder mit ihren zwei herrlich vergnügt sprachverspielten Kindergedichten »Kapselpasten im Klapperkasten«, in dem auch eine Klapperschlange auftaucht und viel geplappert und geklackert wird (ihr lautes Kinderpoem) und »Endlich still« (ihr, logisch, ruhiges Gedicht), in dem letztlich die Worte in – auch das zu den Vorlagen ihres Bühnenpartners des Abends, Frank Klötgen, passend – der Schneestille versinken. Ihren Auftritt rundete Nieder ab mit »zwei fetzentödlein« von Barbara Maria Kloos. Hier ging’s dann plötzlich um Krieg – aber auch um Literatur, mit Remarques »Im Westen nichts Neues« als letztem Fix- und Haltepunkt.

Die »Kreissäge im Kopf« quälte dann bei Heike Haas. Die Dichterin zeigte sich überfordert von der Welt, den Ereignissen, den Entscheidungsmöglichkeiten, und sie bekannte so freimütig wie leicht nachvollziehbar: »Die Kreissäge im Kopf / singt keine schönen Schlaflieder.« Humor von leicht bittrem Beigeschmack und große kulturgeschichtliche Bezüge wies das von ihr abschließend vorgetragene Michael-Augustin-Gedicht »Immer wenn« auf. Hier ist etwa über allen Gipfeln, anders als in Goethes »Wandrers Nachtlied«, nur dann Ruh, wenn die Fluglotsen streiken.

Das Universum in der Stube, Laubbläserterror und reiche Gespräche

Ein Mann allein in der Wohnung, Nacht, das Spiel von Dunkelheit und Licht, eine alte Vinylplatte – daraus entsteht bei Ludwig Steinherr eine ganze Welt, voll innerer Kraft und Ruhe. Wie schon für den kurzfristig wegen einer Terminkollision verhinderten Friedrich Ani las Gutzschhahn auch für den von einer der Krankheitswellen niedergestreckten Ludwig Steinherr. Zuerst sein eben beschriebenes »Universum«. Und dann, von vornherein als Kollegengedicht geplant, Eva Christina Zellers »dieses gedicht ist ein gedicht«. In jenen schwerelosen Versen geht’s um Schreiben, Landschaft, Hölderlin, irgendwie alles und gar nichts, und man lässt sich gern fallen in dieses Spiel und mitnehmen von ihm.

»Schrei nicht // So! Hör auf / Die Ruhe der / Gegenstände.« Das forderte Anton G. Leitner im ersten seiner beiden Beiträge. Lautstark, mit Drive statt gezieltem Stocken und inhaltlich-phonetischen Mitteln, wie eindringliche und durch den Text führende Wiederholungen, ging es dann in »Wieder hallo, das Kind« zur Sache. Dada-nah wird hier eine Geburt beschrieben – und damit der erste Schrei, das erste Hallo in der frischen Familie, das vielleicht lebenswichtigste Lautsein für den Menschen überhaupt.

Was folgt auf laut? Klar, leise. Also machte Gabriele Trinckler mit »er legt den finger an die lippen weiter«. Allerdings wechselte sie zwar die Lautstärke, behielt aber die verschmitzte Tonlage bei. Denn spitzbübisch beobachten zwei hier zusammen – einen Plastikgartenzwerg bei der Arbeit im bald gewiss wieder aufblühenden Vorhausgrün. Im Anschluss allerdings kippte sie die Stimmung gekonnt: Das vorgeblich von Anonym stammende »Ich bin eine Wasserwaise«, das sie nun vortrug, hat es in sich. Im naiven Kinderliedton kommt es daher, beschreibt dabei aber die mörderischen Auswirkungen unseres Umgangs mit unserem Planeten. Denn es handelt von Kampf, Einsamkeit, Haltlosigkeit. Angeblich um 2065, also nach dem ersten großen Wasserkrieg, von einer unbekannten Verfasserin geschrieben, wiederholt es wieder und wieder diese zwei Sätze (freilich mit viel varriierendem Text dazwischen) – den auch titelgebenden Satz: »Ich bin eine Wasserwaise.« Und: »Mutter fiel im Wasserkrieg.« (In DAS GEDICHT 31 übrigens löst sich die Frage der wahren Urheberschaft erst dann auf, wenn man im Autorenverzeichnis nachschlägt, auf der Seite des Gedichts selbst bleibt Trinckler ganz ihrem Rollenspiel treu und verrät ihre Autorenschaft nicht.)

»Zurückgespult« wurde, nach diesem Vorausgreifen in die Zukunft, die Erinnerung in einem bewegenden Gedicht von Axel Kutsch, einfühlsam vorgetragen von Anton G. Leitner. Es beginnt so: »Wenn du in das Dorf / deiner Kindheit zurückkehrst, / siehst du Häuser, / die es nicht mehr gibt. / Frauen und Männer spazieren / durch deine Erinnerung. / Auf dem Friedhof / liest du ihre Namen.« Ein starkes Stück Lyrik, keine Frage. Doch so aus dem Abend gehen, aus dieser großen Festveranstaltung?

Nein, zum Abschluss kam noch Georg »Grögg« Eggers. Erst mit »unsere stille« von Harald Grill. Damit wurde die Stimmung, die noch ganz leise blieb, immerhin ins rein Positive gewendet, mit diesem meditativen, leicht schmunzelnden Lobgesang auf die ländliche Einöde, in welcher der Dichter lebt. Und dann brachte Grögg, der Physikprofessor, Kabarettist und Poetry Slammer, mit seinem »Früh-Rentner-Blasen« eine furiose Abschlussperformance. Er regte sich, wortreich, komisch, sprachpielvergnügt, mit aufrüttelnden Reimen und bestechender Metrik, im klar längsten Poem des Abends in schöner Steigerung über die Frührentner in der Nachbarschaft auf, die ihn schon frühmorgens immer mit ihrem Laubbläserkrach tyrannisieren – und dies tat er so köstlich engagiert, dass er garantiert jeden Laubbläser übertönt hätte.

»Ja«, musste ich mir da schmunzelnd denken, »Gedichte haben Macht, ganz wie Michael Gutzschhahn es vorhin gesagt hat.« Aber vor allem lachte ich frei auf und genoss, was Grögg da bot, wie auch das ganze Publikum sonst. Und dann ging’s in den sogenannten gemütlichen Teil des Abends (als ob der vorher irgendwie unkommod gewesen wäre!), in herrlich viele, reiche Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, mit Zuschauerinnen und Zuschauern.


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