Ein Poet feiert das Leben: Wolf-Dieter Grengels letzter Gedichtband »Am Ufer des Himmels«

Wolf-Dieter Grengel – Foto: privat

Ist es ein bitterer Scherz des Schicksals oder doch eher ein berührendes poetisches Moment der Zeitläufte? Wolf-Dieter Grengel erlebt das Erscheinen seines dritten Gedichtbandes nicht mehr – diesen hat er aber noch selbst fertiggestellt und für ihn den Titel »Am Ufer des Himmels« gefunden. Am 23. März verstarb der Ingelheimer Poet, der 1938 im pfälzischen Kandel geboren worden war, unerwartet, nämlich an den Folgen eines Treppensturzes. 

Nach dem Studium der Germanistik und Romanistik in Mainz und Paris arbeitete er als Gymnasiallehrer und Schullaufbahnberater. Zudem engagierte er sich rund vier Jahrzehnte lang in der Erwachsenenbildung, lehrte hier vor allem deutsche und französische Literatur. In der Reihe Poesie 21 zuvor erschienen sind seine Einzelbände »Flüchtige Formen des Glücks« sowie »Flugfähig für einen ganzen Tag«.

»Er wird fehlen, der feine Mensch, der universell gebildete Kollege«

Über den Poetenkollegen, den er (etwa im Rahmen des Dichterwettstreits »Lyrikstier«) auch immer wieder intensiv live erlebte und dessen dichterisches Werk er als dessen Editor bestens kennt, sagt Anton G. Leitner: »Dieter Grengels Gedichte bestechen durch ihre Lakonie und Lebensfreude. Oft schwingt eine Prise Humor und Selbstironie in ihnen mit. Dieser ein wenig unterschätzte Lyriker, der so angenehm war im Umgang, wird mir sehr fehlen, als feiner Mensch und universell gebildeter Kollege.«

Wie sehr Grengels Dichtkunst auch von weiteren Dichtern anerkannt wurde, zeigt sich etwa darin, dass Wolf-Dieter Grengel, der den Wolf nie so richtig mochte und lieber nur als Dieter angesprochen werden wollte, 2018, beim 10. Lyrikstier, mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet wurde.

Erlas sich den Jury-Sonderpreis beim 10. Lyrikstier (2018): Wolf-Dieter Grengel. – Foto: Jan-Eike Hornauer

Eine Lebenswelt, in die man einziehen möchte

Doch nun zu »Am Ufer des Himmels«: Da möchte man gerne einziehen, in das, was Wolf-Dieter Grengel hier als sein Leben beschreibt. Dieser Gedanke kommt mir schon nach wenigen Seiten in den Kopf. Und dies, obgleich Garten- und Familienidyll hier zentrale Motive und beides eigentlich nicht so meine Themen sind, auch weil sie nicht selten etwas aufgesetzt und steif daherkommen. Grengel aber gelingt es mühelos, mich mit ihnen einzunehmen.

In prosanaher Sprache, mit schwingendem Grundton entführt der Dichter in eine so zauberhaft angenehme wie unaufgeregte und realistische Welt. Hier hat sich jemand aufs Beste eingerichtet in seinem Sein und seinem Garten, mit seiner Frau, der er immer noch sehr zugeneigt ist und die er entzückt beim Gärtnern beobachtet und lobt – was den den Gedichttitel »Blühen« doppeldeutig werden lässt, denn nun blüht nicht nur der Garten auf, sondern auch seine Frau und ihre gemeinsame, schon alte, aber immer wieder erfrischte Liebe.

Und eingerichtet auch mit seinem Enkelkind, in dessen Worte er etwa in »Es kann geschehen« noch mehr gewitzte Weisheit bringt, als in ihnen eigentlich liegt – was der Dichter wiederum weiß, weshalb er es mit einem Augenzwinkern tut. »Manche Märchen haben ja auch einen tieferen Sinn«, unterrichtet dort der Enkel den Opa. Und dieser nutzt die vielleicht nur nachgeplapperte Aussage, um selber schön erstaunt zu sein, den Satz in vielfältige Resonanz zu bringen und mit ihm zugleich auch eine Art eigenes poetisches Programm zu formulieren; jedenfalls passt dieser Satz nicht nur auf Märchen, sondern ganz wunderbar auch auf Grengels Gedichte, die nicht nur immer wieder mal Märchen- und Mittelatermotivik anschlagen, sondern in denen man sich ebenso verlieren kann wie in jenen überlieferten Erzählungen, die dabei zugleich ebenso einen Weg durch die Welt weisen können – und die man ebenfalls, wie die alten Märchen und Co., mit einem guten Gefühl wieder verlässt.

Bildhaft und persönlich – Verse, die man gerne weiterrreichen möchte

Die Gedichte kommen dabei vor allem übers Szenische, übers Bildhafte. Und sie machen auch hier dem Leser den Zugang leicht: Es geht nicht um überraschende Bilder, sondern darum, die einzelnen Bildelemente sprachlich sorgfältig zu gestalten und sie so zusammenzufügen, dass sie aussagestark, persönlich und künstlerisch überzeugend sind. Gerne gibt Grengel seinen versimpressionsistischen Miniaturen dazu auch einen überraschenden Dreh, ein elegant gewendetes Ende. So entsteht sehr zuverlässig das gewisse Extra, das dafür sorgt, dass man diese Verse gerne weiterreichen möchte, mit dem Hinweis: »Da, lies mal, das ist gut!«

In dem Moment etwa, im Gedicht »Die heißen Tage« das lyrische Du die Hände ausstreckt, um Baumästchen, Baumblätter anzufassen, sich mit der Natur zu verbinden, den Sommer so richtig zu spüren, ausgerechnet in dem »fallen die ersten Tropfen«. Doch schlimm, das muss betont werden, ist auch das nicht. Der langsam einsetzende Regen erscheint hier nicht als Bedrohung, sondern nur als Veränderung – und letztlich vollständig zum Großen und ganzen gehörend, das er auch erst richtig rund macht.

Und selbst wenn mal Unwetter ist, stört das nie final die Harmonie, dies zeigt sich in »Dieser Wind«: Zwar hat hier »die Hölle mitgemischt«, doch kann auch dies die Einheit von Mensch und Natur nicht aufheben und das lyrische Ich nicht fremd machen in dieser Welt. Das Gedicht endet so: »Ich gehe hinein / in diesen Hexensabbat / gehe hindurch.«

Facettenreich und in sich schlüssig

Eingeteilt ist der knapp 120 Seiten starke Band in fünf Kapitel, was auch stimmig ist, weil er so mehr Struktur erfährt, die Betonung etwas verschobener Schwerpunkte den Leser gut leitet. Was aber von den ersten Gedichten bis zu den letzten bleibt: der Erzähl- und Bilderkosmos. Klar, schon im ersten Kapitel wird er, im Vergleich zu den bislang in dieser Buchvorstellung beschriebenen Gedichten, auch geweitet. Der Senior Grengel sieht sich nicht nur mit Frau und Enkelkind verbunden, sondern lässt auch etwa den eigenen Opa wiederauferstehen, beschreibt ihn mit vergleichbar liebevoller Art – und sich selbst als glückliches Kind. Neben den eigenen Garten als Erfahrungsraum treten Bergmotive, der Besuch einer Gartenausstellung und der Schulhof. Und es fallen nicht nur erste Tropfen in einen heißen Sommertag, sondern es gibt auch einen veritablen Wolkenbruch als Gegen- und Mitstück zu ihm.

Das Aufgehobensein in Natur und Familie, das Sichwohlfühlen in der Welt und die Perspektive auf jene aber bleiben, die Bilder ergänzen einander, wiederholen sich auch, aber ohne je langweilig zu werden. Nein, man will weiterlesen, es ist angenehm, sich hier hineinfallen zu lassen, einen behaglichen, beruhigenden Kosmos, der glaubwürdig ist und echt, leicht zugänglich und doch neu erzählt. Und so lässt man sich nicht nur durchs erste Kapitel wunderbar hindurchtreiben, sondern sich auch gleich ins zweite hinüberfallen. Und ins dritte. Und so weiter.

Dabei gibt es immer wieder aber auch Kritisches, Mahnendes, werden die Alltagsbeobachtungen auch mal abstrahiert, nicht szenisch dargestellt. Dies rundet das gesamte Kompendium und vertieft den Eindruck, dass von Grengel eben keine Wunschwelt entworfen, sondern nur mit lebensfreudigem und versöhntem Blick die reale Welt poetisch erfasst wird. »Die alte Frau« ist so ein Beispiel, hier beschreibt er einen misstrauisch gewordenen Menschen, der die Welt, also Mitmenschen und Natur etc., als feindselig begreift. Es wird, die Sicht der Beschriebenen übernehmend, attestiert: »Das Alter nimmt ihr jeden Tag etwas weg«. Und das Gedicht schließt mit der unschönen Erkenntnis, die eben auch als Mahnung, als Wegweiser für den Leser gedacht ist: »Sie sieht überall nur Diebe.«

»vom Sockel herunter«, mit Mensch und Welt verbunden

Eines der wichtigsten Motive bleibt in Grengels letztem Gedichtband: Das Verbundensein mit anderen Menschen, das Weitergeben von Geborgenheit und auch von Wissen. Das meint oft die Familie und den generationenübergreifenden Zusammenhalt, aber auch geistige Ausflüge zu den Themen Kunst, Literatur und Schreiben sowie die Verankerung des eigenen Denkens immer auch bei den alten Griechen und Römern. Von hier aus betrachtet er die Welt, den Menschen dann eben auch mal abstrakter, und von hier aus lässt er sich dann auch gerne von der und durch die Sprache treiben, etwa wenn er schlitzohrig-naiv fragt: »Wo ist er Glimpf?« Dass es ihn geben muss, das weiß man ja durch das Wort »glimpflich«, doch wie sieht der Glimpf aus und wo treibt er sich rum? Das will Wolf-Dieter Grengel schon wissen. Hier sieht man sehr schön das ewige Kind, das er bewusst auch ausstellt.

Und in »Ein Sockel« zeigt er, wie er aus der Sprache mit ihren Phrasen und humanistischem Denken zu ganz grundlegenden und praktischen Einsichten gelangen kann. Hier geht es konkret darum, dass wahre Größe nur entsteht, wenn man sich nicht selbst erhebt, sich auf Augenhöhe begibt, es endet: »steigt er vom Sockel herunter // und ist größer als zuvor.«

Unaufgeregt, echt und versöhnlich

Berückend ist und bleibt am Ende aber gerade dies: dieser unerschütterliche Optimismus, diese große Lebenszugewandtheit. »Wir teilen uns den Himmel auf«, fordert er etwa in »Vorsätze«, und sein Gedicht »Das offen Hotelfenster« beendet er mit einem durchaus auch als Grengel-Grundsatzprogramm zu verstehenden: »Ich sage ja.«

Nun, dieser Lyriker ist nun also endgültig am Rande des Himmel angekommen. Das ist sehr traurig. Aber wie er das Leben beschreibt, das macht Mut, macht Lust, versöhnt. Und gibt einem die Gewissheit: Wolf-Dieter Grengel hat sein Leben wahrhaft auskosten können. Unaufgeregt und echt. Er wusste dies, nicht nur als »Ein Gärtner«, genau: »Zufrieden bin ich erst / wenn ich die Triebe für das nächste Jahr / entdeckt habe.« Und hat dabei nicht vergessen, es kann – für niemanden – einfach immer weiter gehen. Dabei war er selbst damit versöhnt. In »Ein anderer« erklärt er, der nun, im Alter, ein anderer ist als früher, wiewohl derselbe geblieben: »Ich verbeuge mich leicht / und danke mir für das / was ich für mich getan habe.«

Bemerkenswert: Selbst im letzten Kapitel, überschrieben mit »Der Tag hat uns eingemauert«, in dem Krankheit, Verfall, Todesnahen durchaus starke Motive sind, überwiegt die Hoffnung, bleibt das Positive. Selbst und gerade im »Dunklen Zimmer« sind da »die Hände / die trösten / die helfen.« Und in »Die ersten Schritte« geht es »aus dem Krankenzimmer in den Garten« und das lyrische Ich wird liebevoll aufgefordert: »… und schmecke von Neuem / das Leben.« Ja, bei Wolf-Dieter Grengel, in seinen Versen gilt, selbst »Wenn der Himmel dunkel wird«, dann nur so: »Mit Blick auf die große Hoffnung«.

(jeh)


Eckdaten zum Buch

Wolf-Dieter Grengel
Am Ufer des Himmels
Gedichte
Reihe Poesie 21, Verlag Steinmeier
Deiningen 2023
120 Seiten, Hardcover mit Fadenheftung
€ 14,80
ISBN 978-3-910597-02-0






Weiteres Info-Material


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert