Gedichte mit Tradition, Folge 318: »Auschwitz, mon amour« von Marion Margarethe Kecht

»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer


Marion Margarethe Kecht

Auschwitz, mon amour

Nach Milch riecht deine Seife,
der Flur umfängt dich als spiegelnder See, gebohnert wie Linoleum.
Blumenfinsternis legt sich in Fensternischen, und deine
Schwelle – warm, wühlend,
weit geöffnet – nimmt uns auf.
Großer Empfang.
Wer dich betritt,
vergisst, dass Steine sprechen können.

Dein geschorenes Haar –
es trägt noch den Duft verbrannter Bücher,
von Knochen und Rauch
und einem Wissen, das nicht länger gilt.
Sonne betäubt dein Antlitz:
diese verdammte Sonne,
gleißend auf Schultern,
gegossen aus abgestorbenem Himmel heraus,
so präzise,
dass Asche nicht fortfliegen kann.

Auschwitz, mon amour,
dein Name ist mir zu geläufig.
Dein Bild steigt empor aus geschrubbten Böden,
desinfiziert.
Hat hier ein Körper gelegen?

Teetassen stehen
aufgereiht wie Perlen
für ein makelloses Fest.
Du gehst auf Zehenspitzen –
leise und lahm.
In den Vitrinen beäugst du Handschuhe,
aus Glas gepellt.
Dein Kleid wischt über blutende Fliesen,
glättet die Kulisse,
in der jeder Schuh
und jede eingeritzte Nummer
stumm daliegen.

Du sagst so gerne Heimat
und meinst: Lager.
Du sagst so gerne Erinnerung
und meinst: Eintrittskarte.

Auschwitz, mon amour,
du flimmerst über Leinwände
in ausgehobenen Kellern.
Ein Loop aus Flimmern und Gedenken,
wo Museumslicht auf Edelstahl trifft.
Ich schau dich an
wie ein Kunstwerk im Louvre
oder auf einer Parkbank,
mit Kopfhörern über Ohren gestülpt.
Und ich nicke,
wie man eben nickt.

Dein Himmel schält sich wie ein Apfel,
dein Blick ist ein Querschnitt durch Blau.
Feuchtigkeit kriecht in deine Kehle,
und der Wind trägt Salz, das deine Haut erstickt.
Ein altes Lied wäscht deine Wunden wund.
Ein Floß aus dunkler Haut umrahmt den
Sturm aus Namen –
und keiner kennt den deinen.
Ein Meer als offener Mund,
bereit, dich zu opfern,
bereit, dich zu schlucken,
wenn du nicht schwimmen willst.
Wellen als Warnungen,
aufgebrochen, zerschunden.
Nur du kannst sie hören.

Der Vorhang fällt in Grau,
in der Farbe von Zement.
Es glüht etwas,
du siehst es,
der Horizont öffnet seinen Hosenschlitz auf Befehl.
Die Wellen reden jetzt nicht mehr von dir,
sie spülen dich an Land, und
deine Vergangenheit löst
sich auf wie Aspirin.
Unser Wasser – blank wie das Linoleum von damals,
sich auftürmend als Wand, die sich weiter und weiter dehnt.
Schwarze Milch, wir trinken sie noch.

Du armes
Versuchskaninchen, das mich
so sonderbar scheu
aus dem Gestrüpp anblickt.

Willkommen im Mittelmeer.
Willkommen in Europa.


© Marion Margarethe Kecht, Wien

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Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.



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