Wiedergelesen – Folge 6: »verschenkter Rat« von Ilse Aichinger

Literatur ist vergänglich, auch wenn sie sich, wie jede Kunst, gegen ihre Vergänglichkeit zur Wehr setzt. Trotzdem entschwinden Bücher in Archivbibliotheken. Auf einmal gehören sie nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Erich Jooß stellt an jedem 15. des Monats vergessene Lyrikveröffentlichungen in seiner Rubrik »Wiedergelesen« vor, die bewusst unsystematisch angelegt ist. Entdeckerfreude und persönliche Vorlieben sind ihm als Kolumnist von DAS GEDICHT blog wichtiger als literaturhistorische Zensuren.

 

Ilse Aichingers Gedichtband »verschenkter Rat« wurde 1978 vom S. Fischer Verlag herausgebracht. Im Impressum des Buches findet sich der Vermerk »Gestaltung Otl Aicher, Rotis« – eine nüchterne Notiz, die im Einklang steht mit der sachlich-strengen, bis heute vorbildhaften Ausstattung des Buches. Durch seine formstiftende Kraft hat Otl Aicher, der große Stilist, mehr als zwei Jahrzehnte den Werken von Ilse Aichinger zu ihrem unverwechselbaren Aussehen verholfen. Hier muss der Hinweis genügen auf die enge Verbindung der Dichterin zu jener Ulmer »Hochschule für Gestaltung«, die das ästhetische Bewusstsein der Nachkriegsrepublik entscheidend veränderte. Wer den Lyrikband aufschlägt, wird an keiner Stelle mit den Augen abgelenkt, sondern fast hypnotisch hineingezogen in die Texte, die ihrerseits, so erweckt es den Eindruck, in einem leeren, weißen Raum angesiedelt sind. Wie sie »in der Luft hängen«, widerspricht bis dahin gängigen Regeln und korrespondiert gerade deshalb dem schwebenden, luftigen Charakter der Gedichte.

Bereits der Titel des Buches »verschenkter Rat« entzieht sich der Festlegung. Damit kann ein großherzig erteilter Rat gemeint sein, umgangssprachlich freilich genauso – mit einem eher bitteren Beigeschmack – ein »hergeschenkter«, also vergeblicher Rat. Ganz ähnlich verweigern sich auch die 86 Gedichte, die in dem Band versammelt sind, jedem raschen, deutenden Zugriff. Ilse Aichingers Texte wirken manchmal, als seien sie im Traum niedergeschrieben, dann wieder gleichen die Gedichte literarischen Vexierspielen oder kippen unvermittelt ins Ironisch-Groteske. Die Dichterin ruft viele Stimmen und Erinnerungen gegen das Verstummen auf; sie folgt verwischten, kaum noch lesbaren Fährten. Zwischendurch stoßen die Leser auf merkwürdig verfremdete Orakelsprüche, aber auch auf Abzählreime, Kindergedichte, die scheinbar unbefangen das Absurde auf die Spitze treiben: »wir heißen Mohren, / denn Kärnten ging verloren«. Oder: »… den Kindern / wird bei ihrer Ernte / von Löwenzähnen geholfen, / Platz für den König!« Sogar ein »Kurzes Schlaflied« ist unter den Texten: »Rouen / soll bei dir sein, / der Apfelzucker, / die bessere Sonne / ohne Gewalttat«. Das alles kann Ilse Aichinger am Abgrund der eigenen Erfahrungen, der eigenen Lebensgeschichte, nur deshalb gelingen, weil sie kurzerhand das Unmögliche zum Möglichen erklärt und die Leser, statt mit Antworten, lieber mit Fragen entlässt; dies selbst dort, wo das Gedicht auf einer apodiktisch zugespitzten Erkenntnis zu beharren scheint: » … und hätte ich keine Träume, / so wäre ich doch kein anderer, / ich wäre derselbe ohne Träume, / wer rief mich heim?«

Laut Klappentext des Bandes hat die Autorin hier zum ersten Mal ihre zwischen 1958 und 1978 entstandenen Gedichte zusammengestellt, und zwar »in einer Anordnung, die die Entstehungszeit der Gedichte unberücksichtigt läßt.« Offenbar wollte Ilse Aichinger verhindern, dass sich werkgeschichtliche Informationen vor die Texte schieben und von ihnen wegführen. Wer mit dem Oeuvre der Dichterin vertraut ist, weiß freilich, dass ein kleinerer Teil der Gedichte bereits in dem 1963 erschienenen Buch »Wo ich wohne« enthalten war. Im Übrigen hat Ilse Aichinger auch später noch Gedichte verfasst. Ihr lyrisches Werk (nicht nur das!) blieb trotzdem schmal. Bis heute ist es mit dem Verdacht belegt, erratisch zu sein. Aber dieser Verdacht sagt mehr aus über die mangelnde Bereitschaft mancher Kritiker, sich auf ungewöhnliche, fordernde Texte einzulassen, als über die vermeintliche Unzugänglichkeit der Autorin und ihres Werkes.

Die »Realien« in den Gedichten sind jedenfalls manifest. Sie verweisen auf Landschaften und Orte im bayrisch-österreichischen Voralpenland wie Linz, den Attersee oder Breitbrunn (»Ehe sie sterben, / ziehen die Pfarrer / in andere Dörfer.«) und auf Häuser und Plätze in Wien. Immer wieder tauchen kulturhistorische, vielleicht bei Reisen eingesammelte Beobachtungen und Reminiszenzen auf. Je konkreter die Bilder der Gedichte »gelesen« werden, umso näher kommt man ihnen und beginnt dann zu begreifen, warum in der Sammlung die Wintermetaphern dominieren, warum die Trauer als »himmlische Magd«, der Schatten als »Tröster« bezeichnet wird und an die Stelle der Engel »mit den warmen Flügelfedern« in dem harten Gedicht »Findelkind« ein sterbenskranker, von der Tollwut zerfressener Fuchs tritt. Dieser Text gehört, zusammen mit den Erinnerungen an die geliebte jüdische Großmutter, die in die Vernichtungslager des Ostens deportiert wurde (»Winterantwort«: »Ist es nicht ein finsterer Wald, / in den wir gerieten?«), sicherlich zum Bleibenden. Anderes (Weniges) dagegen wie der schon von Sulpicius Severus widerlegte »Nachruf« auf den heiligen Martin liefert kaum mehr als eine Pointe. Zum Schluss zitiere ich einige Zeilen aus meinem Lieblingsgedicht »Chinesischer Abschied«, das in seiner Einfachheit überrascht: » … wer uns wecken will, / möge es sanft tun, / er möge seine Stimme schonen / und auch sein Herz, / denn beide sind kostbar.«
 

Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath
Dr. Erich Jooß. Foto: Volker Derlath

»Wiedergelesen« wird Ihnen von Erich Jooß präsentiert. Der Schriftsteller aus Höhenkirchen veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Wiedergelesen« finden Sie hier.

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