Reformatio | Reset
Pausenpoesie zum Neustarten 53
Weckruf

Das Lyrikprojekt zur Lutherdekade im Themenjahr 2015
in Kooperation mit Anton G. Leitner | DAS GEDICHT

 

Richard Dove

Weckruf

Wie werf ich mich nieder? Bequem,
auf dem nächtlichen Lager mich räkelnd.

Kein Morgengrauen, das Dorf in Mittelanatolien
schläft noch, dämmert.
Es schweigen die phrygischen Schalmeien,
die alle Seelenleiden heilen.
An der der Göttin geweihten Pinie
hängt geschunden der Quelldämon.

Der einzige Ort des Lichts
das basaltblaue Minarett.
Abseits des Mikrophons,
unbeabsichtigt zu laut aufgedreht,
räuspert sich, sehr leise, der Muezzin,
hebt sogleich an.

Komplexe Sequenzen,
streng symmetrische Pflanzenranken,
Arabesken, die sich ihren Weg
durch die Trägheit bahnen.
Blitzhelle Kalligraphie
auf leerem, abwesendem Grund.

Nicht oberflächlich schön dieses Ringen,
weil schmerzlich-verschlungen,
Laokoon, von Schlangen umwickelt.
Lang jede Sequenz, fast bis an die Schwelle der Atemnot.
Dazwischen deutliche Pausen, damit
der Ausrufer Atem schöpfen kann,
ohne daß Zuhörer
seine Sterblichkeit bemerken,
zu großer Stilbruch
im Angesicht des Ewigen.

Ein hartes Ringen,
doch als er schon übermannt zu sein scheint,
Andeutung eines harmonischen Ausklangs,
sehr leise, der gleich im Schweigen versinkt
in einer atonalen Welt.

Dann schlaf ich fest weiter.

 
© Richard Dove, geboren 1954 in Bath (England), lebt in München.
 

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