Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 1: Der Vers

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Der Vers ist keine Zeile. Zeilen entstehen beim Umbruch, damit Texte, in denen eins aufs andere folgt, in handliche Rechteckformate gepackt werden können und nicht als endlose Papierstreifen aufgespult werden müssen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten den Zauberberg oder das Bürgerliche Gesetzbuch von der Spule lesen. Wer noch Tonbandgeräte kennt, weiß, welches Ungemach häufiges Spulen verursachen kann. Der Umbruch mit seinen Zeilen ist einfach ein effektives Mittel, um Bandsalat zu vermeiden.

Der Vers ist auch keine Sinneinheit, geschweige denn ein Satz. Er schert sich nicht um Syntax und Semantik. Mal reicht der Satz nicht bis zum Versende, mal schießt er darüber hinaus, mal passt er. Manchmal fehlt der Sinn auch, und der Vers bleibt trotzdem Vers. Dagegen haben Syntax und Semantik sehr wohl Rücksicht auf den Vers zu nehmen, sonst sägen sie an dem Ast, auf dem sie sitzen.

Der Vers wirkt nur sekundär über seine Inhalte, sonst könnten sie ja im Extremfall auch nicht wegfallen. Primär wirkt er über körperliche Impulse wie Rhythmus und Klang. Die aber müssen gut gemacht sein, sonst ist der Vers nur gut gemeint. Denn Rhythmus und Klang steuern die emotionale Wirkung, unter der sich die Kognition erst für das Vexierspiel der Mehrfachcodierungen, Ambivalenzen und Widersprüche weiten kann. (Nicht muss: Verse können auch einfach mitgegrölt werden.) Fehlte diese emotionale Basis, suchte die Kognition bloß wie im Alltagsgeschäft nach verwertbaren Daten, ginge ins Leere, ein Verständnis für den Vers wäre nicht möglich. Indikator für solches Unverständnis ist stets die Frage „Was soll das?“. Sie markiert immer den Holzweg.

Der Vers ist zwar linear, weil Wörter immer eine Reihenfolge bilden, er bildet aber zugleich eine Fläche, die Strophe. In der Strophe ist das Zeitkontinuum aufgehoben, wenn auch nicht die Zeitlichkeit selbst. Die gestaltete Buchseite aus Zeilen kann bestenfalls lesefreundlich sein, die Gestalt der Strophe stiftet Sinn: Schlüsselwörter oder Sprachbilder sind die Knoten eines Netzes, das über den ganzen Text gespannt ist. Zwischen ihnen bewegt sich das Verstehen in alle Richtungen.
Wer auf lineare, widerspruchsfreie, einfach codierte Information aus ist, empfindet solche Komplikationen als störend. Nicht zufällig wird in Business und Verwaltung alles als „Lyrik“ abgekanzelt, was über Tabellen und Diagramme hinausgeht. Dabei ist der Vers gar nichts spezifisch Lyrisches. Es gibt epische Verse wie den Hexameter und dramatische wie den Blankvers.

Der Vers ist allgemein eine auf der Atmung fußende Sprech- und Gedächtnishilfe, er umfasst in der Regel die Menge an Wörtern, die sich beim Ausatmen artikulieren lassen, und gliedert sie rhythmisch und klanglich/stimmlich, gleichgültig ob in freien oder in gebundenen Metren. Der metrisch gebundene Vers erleichtert überdies das Auswendiglernen. Gerade Blankvers und Hexameter bieten äußerst geschmeidige rhythmische Grundmuster, die einen Vortrag auch über längere Zeitstrecken unterstützen. Man kann sich in Halbtrance von ihnen tragen lassen.

Der Vers ist nicht einmal auf das Literarische beschränkt. Es gibt Liturgien, Merkverse, Abzählreime, Slogans, Fangesänge und vieles mehr. All den Gestalten des Verses ist eins gemeinsam: Sie organisieren die Sprache nicht, um etwas zu erklären und Informationen zu übermitteln, sie organisieren die Sprache als körperlichen Ausdruck assoziativ gewonnener, divergierender Sinnschichten. Die Organisationsform ist archaisch: Ähnliches wird mit Ähnlichem verbunden, Bedeutungen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Dieses analogische Verfahren findet sich auch im Reim und seinem schmuddeligen Cousin, dem Kalauer. Emotion und Kognition sind dabei nicht (noch nicht/nicht mehr) getrennt.

Der Vers beharrt darauf, dass Emotion und Kognition Funktionen desselben Apparats sind. Er kann also tatsächlich helfen, zu begreifen, was uns ergreift. Allerdings ist Bleibendes, von Dichtern gestiftet, dazu gar nicht nötig, wie Emil Staiger noch fest glaubte, von dem die Formel stammt. Um ergriffen zu sein, brauchen wir als Hardware unseren Körper, der uns mit Herzschlag und Atem für Rhythmen empfänglich macht, und dadurch Raum und Zeit überhaupt erfahrbar macht. Auf dieser Hardware läuft der (allerdings dialektisch arbeitende) kognitiv-emotionale Apparat als Betriebssystem, in das wiederum die vielfältige Software des Begreifens installiert ist.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Vers nur der Weisheit vorletzter Schluss ist. Die Fähigkeit, die Kognition von der Emotion zu trennen, stellt einen unhintergehbaren zivilisatorischen Fortschritt dar, sie markiert den Schritt vom Mythos zur Aufklärung. Wir wissen aber spätestens seit Horkheimer und Adorno, dass eine Aufklärung, die den Mythos ignoriert, ihre eigene Rationalität fetischisiert und blind ins Mythische zurückfällt.

Die sinnliche Qualität des Verses als der Weisheit vorletzter Schluss warnt also vor dem Aberglauben, die rational konstruierte Information sei der Weisheit letzter Schluss. So verweisen beide auf die Defizite des jeweils anderen. Der Preis der Vernunft ist die Vernünftigkeit der nüchternen Analyse. Der Vers dagegen analysiert nichts, er schafft spontane, aber ungesicherte Erkenntnis durch Vergnügen. Beides kann verhängnisvoll sein: Die vernünftige Analyse ist unattraktiv, oft langweilig und läuft immer Gefahr, zum Selbstzweck zu werden. Dann erkennt sie nichts mehr, sondern bestätigt nur noch. Auch der Vers kann Selbstzweck werden, er ist nur noch lustig oder traurig und bestätigt dann ebenfalls Immergleiches. Der entscheidende Unterschied zum analytischen Text besteht aber darin, dass sein Inhalt nicht widerlegbar ist, er ist nicht diskursiv. Dafür öffnet er Gefühlsräume.

Fortuna Turn- und Sportverein
Aus Düsseldorf am Rhein,
Für immer wirst du unsre
Nummer 1 im Herzen sein.

Dies ist ein anonymer Fangesang für Fortuna Düsseldorf. Die Sprache ist kunstlos, aber geschmeidig. Die Verse sind erstaunlich gelungen, was bei Fangesängen nicht selbstverständlich ist.

Das Metrum ist variationsreich auf der Basis des jambischen Vierhebers mit männlicher Kadenz in Vers 1 (xx́ xx́ xx́ xx́^). In Vers 2 wird er auf einen Dreiheber verkürzt (xx́ xx́ xx́^), in Vers 3 ebenso, allerdings mit weiblicher Kadenz (xx́ xx́ xx́x), deren zusätzliche unbetonte Silbe zusammen mit dem Enjambement in Vers 4 einen trochäischen Vierheber mit männlicher Kadenz (x́x x́x x́x x́^) erlaubt.

Da ist viel Rührseligkeit im Spiel, eine Liebeserklärung in vier Schritten an einen Fußballverein:

  1. Formelle Anrufung des Geliebten mit seinem vollen Namen.
  2. Beschwörung der Heimat, sie legitimiert die Liebe. Das am Rhein ist dabei eine sentimentale Überhöhung ohne Informationswert. Die Nennung des Flussnamens hat eigentlich nur bei „Frankfurt“ einen Sinn. Wenn jemand überhaupt etwas über Düsseldorf weiß, dann dass es am Rhein liegt.
  3. Schwur ewiger Treue.
  4. Nummer 1 im Herzen: Hier sind zwei Bildbereiche verschmolzen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Das Herz als Symbol der unbedingten Liebe und die Nummer 1 als Symbol des Sieges in der Konkurrenz. Doch gerade dies Paradox macht den Vers zur Apotheose des Sports. Denn der Sport ist emotional getragen von der unbedingten Liebe zu einem Verein, der den Triumph will, und wenn er ihn errungen hat, lässt unsere Liebe uns daran teilhaben. Sollte der Triumph verfehlt werden, lässt die Liebe uns mittrauern. Das Praktische an dieser Liebe besteht darin, dass sie eben nicht einer Person gilt (Personen sind immer anstrengend, weil sie einen eigenen Willen haben), sondern einer Abstraktion, die von Personen bloß repräsentiert wird. Der Verein ist die perfekte Projektionsfläche für all die Gefühle, die rauswollen.

Die rituellen Verse des Fangesangs zelebrieren einen glücklichen Ausnahmezustand, der nicht verhandelbar ist. Es sind die Verse, die den emotionalen Raum herstellen, in dem die an sich banalen Aussagen ihre Wirkmacht entfalten. In den Versen schafft die Sprache ein sprachloses Einverständnis.

Darin aber zeigt sich die Ambivalenz des Verses: Er kann ebenso das Moment der befreienden Synthese von Verstand und Gefühl bilden wie das große besinnungslose Einverständnis, das in der Folge zu allen Untaten bereit ist. Schließlich brüllt auch der menschenverachtende Mob Verse.

Kurzum und generell:
Der Vers ist in erster Linie schön. Wenn er nicht gut gemacht ist, zerstört dies auch seine Inhalte. Ist er gut gemacht, schafft er sprachliche Differenzierungen, die die bloße Informationsvermittlung sprengen. Damit eröffnet er Möglichkeiten diskursiver Erkenntnisse, ohne diese aber zu realisieren. Er kann so gleichermaßen die Humanität befördern wie die Inhumanität, denn das Schöne ist vom Schrecklichen nicht völlig zu trennen.

 

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Plappern – Macht – Schule Zwischenbemerkung zu Schule und Sprache, Düsseldorf 2017, onomato verlag. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Ein Kommentar

  1. Hallo Achim,
    endlich erklärt mir mal jemand klar und deutlich, was ich da eigentlich seit über 6 Jahrzehnten mache.
    ;-)
    Bulkos gestrigen Vers habe ich wie folgt ergänzt: Na, wenn wir uns daran mal nicht die Finger verbrennen.
    Und hoffentlich platzt uns nicht der Kopf bei dieser Aktion !
    (Am Freitag habe ich übrigens endlich mal einen wunderschönen Kitschpokal beim Poetry Slam in Minden gewonnen. Foto kommt separat.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert