Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 2: Der Reim (Teil 2)

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Der Reim (Fortsetzung)

G. G. GEBURTSTAGSMEDAILLON
Ein lebenslang Verschwiegenes,
auf keinem Markt Gehandeltes
will auch ans Licht.
Indes, als ein gediegenes
zur Kunstgestalt Verwandeltes:
Ihr faßt es nicht!

(Peter Rühmkorf, Paradiesvogelschiß, Reinbek 2008, S. 136)

FAUST.
Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker,
O so gewiß entzückt auch der Gesang,
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.
Doch ist am sichersten, wir üben’s gleich;
Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.

HELENA.
So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön?

FAUST.
Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt –

HELENA.
wer mitgenießt.

FAUST.
Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück,
Die Gegenwart allein –

HELENA.
ist unser Glück.

FAUST.
Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;
Bestätigung, wer gibt sie?

HELENA.
Meine Hand.

(Goethe, Faust II, Goethes Werke Bd. III, München 19729, V. 9372-9384)

 

5 Der Reim als Kunst

Was also emanzipiert den Reim vom Kalauer?
Peter Hacks‘

Gebirgig schuf dich Gott und klösterreich,
Tibet des Okzidentes, Österreich.

hört sich zunächst mal genauso albern an wie

Wer andern eine Zange leiht,
vermisst sie oft für lange Zeit.

Beide entspringen schließlich dem fruchtbaren Geschlecht derer von Kalau und beziehen ihren sinnlichen Reiz von der buchstäblichen Eintönigkeit. Der Unterschied ist aber beträchtlich: Der Schüttelreim ist eine technische Spielerei, um die herum beliebige Verse gebastelt sind. Es könnte genauso gut heißen

Des Hammers Freud ist lange Zeit
Der Nägel und der Zange Leid

(A.R.)

Der Effekt ist derselbe. Völlig Wurst, was da vor den Reimwörtern steht. Hauptsache irgendwas. Und das ist es genau bei Peter Hacks nicht. Österreich ist so durch und durch katholisch, dass selbst die Gegner*innen des Katholizismus von diesem durchtränkt sind. Hacks‘ technischer Kalauer ist beinah eine Tautologie. Aber eben nur beinah. Während die Tautologie eine Aussage lediglich verdoppelt (Dienst ist Dienst), geht klösterreich über die Verdopplung von Österreich hinaus. Das Alpenland wird durch den Doppelklang zu einem Ort der Spiritualität in dünner Luft, zum gottgegebenen Tibet des Okzidentes. Das ist keine schreyende Eintönigkeit mehr, sondern eine breit grinsende.

Beiläufig schafft Peter Hacks es sogar, wie Groucho Marx den Kalauer, den Schüttelreim zum Kunstwerk zu machen. In seinem Distichon Paris 68; Rechtsphilosophie § 5 muss er den Reim gar nicht ausführen, weil der sich ja von selbst versteht:

Mairauch und Wirren – das Wortpaar eben sachte geschüttelt,
Schon durch den linken Odeur schwadet das Christliche durch.[7]

Auch bei Peter Rühmkorf führt der Reim in seiner Eintönigkeit zusammen, was zusammen gehört. Das Geburtstagsmedaillon ist seinem Freund Günter Grass gewidmet, der jahrzehntelang seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verschwiegen hatte und erst 2006 in Beim Häuten der Zwiebel einräumte.

Feuilletons und Kommentare überschlugen sich seinerzeit, Rühmkorf sagt alles Notwendige in unaufgeregten sechs Versen, und er sagt es wesentlich durch die Reime:

Das Verdrängte (lebenslang Verschwiegenes) sublimiert sich (gediegenes Verwandeltes) in der Kunstgestalt und will ans Licht. Da das Verdrängte nicht warenförmig war (auf keinem Markt Gehandeltes) und ist (Kunstgestalt), kann die Öffentlichkeit dem nicht gerecht werden (Ihr faßt es nicht). Soweit die Paraphrase der Verse. Sie beschreiben, worum es geht. Die Reime aber sorgen für die gedankliche Struktur. Nicht fassen zu können, was ans Licht will – Wille tut sich immer kund – ist nichts anderes als Dummheit, die ja auch nicht selten mit dem Attribut „unfassbar“ ausgestattet ist: Das Reimwort auf Licht, Sinnbild des Geistes und der Wahrheit, ist die bloße abstrakte Negation nicht. Das Zentrum des Gedichts bildet jedoch der Reim auf keinem Markt Gehandeltes / zur Kunstgestalt Verwandeltes. Dass es hier um mehr geht als die Technik der schreyenden Eintönigkeit, ist allein schon daran zu erkennen, dass hier nicht völlig Wurst ist, was da vor den Reimwörtern steht. Im Gegenteil. Auf dem Markt geht es um quantitative Verhältnisse von gleichförmigen Waren: „Wieviel? – 1 Brötchen = 42 ct!“ In der Kunstgestalt geht es um die Qualität von etwas, das durch eine Verwandlung zu etwas Unvergleichbarem geworden ist „Wie ist das Gedicht? – Schlecht!“. Gehandeltes und Verwandeltes drücken in ihrem Gleichklang einen absoluten Gegensatz aus, den die strukturelle Dummheit, die nur den Äquivalententausch kennt, nicht fassen kann. Denn die Gegensätzlichkeit des gleich Klingenden ist Ausdruck einer Dialektik, die alle überfordert, die nur das Vergleichen gelernt haben und von der wechselwirkenden Widersprüchlichkeit von Markt und Kunst nichts ahnen.

Dass der Reim als Kunst nicht nur Strukturen gestalten kann, sondern auch Emotionen, zeigt der zitierte Dialog von Faust und Helena. Karl Kraus zeigt in seinem Aufsatz Der Reim[8] akribisch, wie in dieser Szene der Reim als dialogisches Prinzip – Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor – der Gleichklang der Wörter das körperliche Begehren synchronisiert.

Das ist gar leicht, es muß vom Herzen gehn.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt —
Wer mitgenießt.

Entgegengesetzter kann der Reim jener schreyenden Eintönigkeit nicht sein. – Was macht ihn zur Kunst?

Eben, was ihm seine Verächter vorwerfen, er sei künstlich, ist an ihm zu schätzen. Wer, wenn nicht der Reim, wüßte (oft im Gegensatz zu seinen Verfassern), daß sich auf das Leben keiner machen läßt, geschweige denn auf die Menschen, nicht einmal auf einen; aber seine ständig in ihm wohnende Bitte, es möge doch so sein, eines möge zum anderen kommen, eines möge dem anderen entsprechen, eines möge auf das andere antworten, ist unüberhörbar. Seine Gier nach Echo, Zwiesprache und Widerhall läßt sich nicht leugnen. Der Reim ist der homo politicus, der Communist und der Utopist der Lyrik, und noch in seinen einfältigsten Erscheinungen, Idyllen, Weltfluchten, Gräser- und Schäferpoesien will er in aller Form die Aufhebung der Einsamkeit und die Sehnsucht nach Zusammenkunft und Vereinbarung, auch des Auseinanderstrebenden, bedeuten. Der Reim, sagt der Dichter Oskar Loerke, ist etwas Geselliges.[9]

So Peter Maiwald. Karl Kraus variiert und pointiert die Aussage, indem er gleich die Probe aufs Exempel macht:

Er ist das Ufer, wo sie landen,
sind zwei Gedanken einverstanden.[10]

Beide gehen allerdings davon aus, dass der Reim an sich diese magische Qualität hat. Vielleicht waren sie zu sehr Dichter, um zu bedenken, dass der Reim (wie auch alle anderen Elemente der Sprachkunst) außerkünstlerische, letztlich triviale Wurzeln hat. Die schreyende Eintönigkeit, in der der Kling Klang Singt und der Sing-Sang Klingt ist von sich aus noch keine Kunst, sie muss erst dazu gemacht werden. Nicht zufällig kommt das Wort Poesie ja von ποιεῖν = machen.

Was gemacht wird, kann gelingen oder scheitern. Das ist das Risiko aller Artefakte, ob sie nun von Künstler*innen geschaffen werden, von Ingenieur*innen oder von Kindern im Sandkasten. Wie mit dem Reim ein Kunstwerk scheitern kann, zeigt Karl Kraus unmittelbar im Anschluss an Goethes spracherotisches Meisterwerkchen:

Und ergibt sich nicht als das einzige Kriterium des Reims: daß der Gedanke in ihm seine Kraft bewahrt bis zu dem Zauber, den an und für sich leeren Klang in einen vollen, den unreinen in einen reinen zu verwandeln? So sehr, daß der Reim als die Blüte des Verses noch abgepflückt für das Element zeuge, dem er entstammt ist. In dem Sinne nämlich, daß das Gedicht auf seiner höchsten Stufe den Einklang der gedanklichen Sphären im Reim mindestens ahnen lassen wird. Ein Schulbeispiel für das Gegenteil bei vollster lautlicher Erfüllung bildet ein Reim Georges in einem auch sonst verunglückten Gedicht (»Der Stern des Bundes«):

Nachdem der kampf gekämpft das feld gewonnen
Der boden wieder schwoll für frische saat
Mit kränzen heimwärts zogen mann und maat:
Hat schon im schönsten gau das fest begonnen

– – – – – – – – – –

Von allem orthographischen und interpunktionellen Hindernis abgesehen: nur lesbar und syntaktisch zugänglich, wenn man sich die Imperfekta der Mittelverse — welche unmöglich von »nachdem« abhängen konnten — als eingeschaltete Aussage zwischen Gedankenstrichen denkt. Aber welch einen Mißreim bedeutet dieses »Maat« (Schiffsmaat, Gehilfe); welche Überraschung für die Saat, die doch von Natur höchstens auf Mahd gefaßt wäre. Wie wenig sind hier die zwei Gedanken einverstanden und wie anschaulich fügt sich das Beispiel in das Kapitel der Beiläufigkeiten, »mit denen dichterische Werte besät sind«. Und wie blinkt dieser Reim doch vor Reinheit! Ein ästhetisches Gesetz wäre dem Vorgang der Schöpfung, der im poetischen Leben kein anderer ist als im erotischen — und wundersam offenbart sich diese Identitat eben in der Wortpaarung zwischen Faust und Helena —, eben nicht aufzuzwingen. Etwas anderes ist es, von den Kräften auszusagen, die da am Werke sind; und ganz und gar ohne den Anspruch, sie dort, wo sie nicht vorhanden, verleihen zu können. Der Nutzen einer solchen Untersuchung kann füglich nur darin bestehen, daß den Genießern des Dichtwerks der Weg zu einer besseren Erkenntnis und damit zu einem Genuß höherer Art gewiesen wird. Und der Einblick in das, was im Gedankenraum der gebundenen Sprache das Wort zu leisten vermag, wird sich gewiß einer Betrachtung des Reimes abgewinnen lassen als der Form, die in Wahrheit den Knoten des Bandes und nicht die aufgesetzte Masche bedeutet.[11]

 

6 Resümee

Nicht die Eintracht der schreyenden Eintönigkeit macht die Kunst des Reims aus, sondern die Erotik des gedanklichen Stoffs. Die ist das Ziel der ποίησις = Poiesis, der künstlerischen Arbeit. Was genau diese Arbeit ist, wäre ein eigenes Thema für ein weiteres kniffliges Poesiepuzzle. Ist die Arbeit gelungen, spielt es keine Rolle, ob die Reime Ergebnis stundenlangen Laborierens oder eines Kinderspiels sind, ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende des Verses stehen, ob sie rein oder unrein daherkommen, ob sie doppelt, mehrfach, vokalisch halb, ob sie gerührt oder geschüttelt sind. Auch wenn sie gespalten oder gebrochen sind, nur für die Augen gemacht, oder ob sie uns vexieren: all diese Unterscheidungen sind Korinthekackereien angesichts der entscheidenden Frage: Gelungen oder vergeigt?

 

[7] Peter Hacks, a.a.O., S. 246
[8] In: Karl Kraus, Die Sprache, Bd. 2 der Werkausgabe, München 1974, S. 388 ff.
[9] Peter Maiwald, Wortkino Notizen zur Poesie, Ffm 1993, S. 87f
[10] Karl Kraus, Der Reim, Worte in Versen, Bd. 7 der Werkausgabe, München 1974, S. 80
[11] Karl Kraus, Die Sprache, a.a.O., S. 403f.

 

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Plappern – Macht – Schule Zwischenbemerkung zu Schule und Sprache, Düsseldorf 2017, onomato verlag. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

2 Kommentare

  1. Das Kind in uns allen. Die Lust am Spiel. Es anzusprechen oder wiederzuerwecken, vielleicht die vornehmste Aufgabe der Lyrik? Der Reim ist nämlich nicht nur künstlich, sondern auch kindlich. Kinder lieben Reime. Aber Kinder sind noch ganz natürlich-kreatürlich, wie nicht zuletzt ihre Tierliebe oft rührend beweist. (Tiergedichte haben all dieses in sich.) Somit ist der Reim schwierig und einfach zugleich. Ja: das scheinbar Einfache als das Schwierigste. Im beglückendsten Fall: das genial Einfache. Das Evidente, durch sich selbst Plausible, Unwiderlegbare. Das sind die Sternstunden. Der Reim ist mithin: ein Widerspruch in sich. Schwer zu fassen, das Wesen des Reims, allein von diesem kindlich-künstlichen Aspekt aus, nicht wahr? Und das ist lange nicht der einzige, über das im innewohnende humorvolle Moment hat sich Gernhardt, über das erotische Goethe hinreichend (?) ausgelassen. In jedem Fall: Lyrik ohne Reim ist nie mehrheits- oder gar massentauglich geworden. Der Reim ist die differentia specifica, die ein Gedicht, sofern es nicht nur ein Gedünn, sprich ein Gereim ist, am schnellsten als Lyrik identifizieren lässt und es einmalig macht und sicher von der alles überschwemmenden Prosaflut unserer Tage abhebt/abgrenzt. Sicherer als breiter rechter Seitenrand, Großschreibung am Zeilenanfang (klassische Lyrik), Zeilenbruch (moderne Lyrik) und was dergleichen mehr ist, die wohl eher Formsachen sind. Ich erhoffe eine Renaissance und vollständige Rehabilitierung des Reims. Aber wann begreifen es die Lyriker und Jurys, was er für Chancen bietet, immer noch-? lg ce

    1. Lieber Christian Engelken,
      im Rheinland, wo man es mit Prokrastination, Verdrängung und einfacher Saumseligkeit nicht so genau nimmt, gibt es die schöne Redewendung „Wollte ich längst dran gedacht haben“, die ich jetzt in Anspruch nehme, um nach beinah zwei Jahren auf Ihren ausführlichen Kommentar zu meinem Reimaufsatz zu reagieren.
      Ich sehe ebenfalls, dass der Reim ein paradoxes Phänomen ist, selbstvergessenes Spiel und zugleich kalkulierte Konstruktion, künstlich und kindlich in einem. Er kann aber ebenso gut an den Haaren herbei gezogen und kindisch sein. Oder trivial. Oder albern. Oder auch nur dumm. Und jedes davon kann unmittelbar in jedes andere umschlagen. Kunst wird Kitsch und Kitsch wird Kunst. Der Reim ist in meinem Verständnis ein literarisches Gestaltungsmittel unter vielen, nicht einmal auf die Lyrik beschränkt, Auch die anderen Gattungen verwenden ihn, und in der Lyrik gibt es durchaus triftige Gründe gegen ihn. Die klassische Antike kam blendend ohne ihn aus, und nach seiner Blüte im 17. Jahrhundert verkam er im 18. und 19. immer mehr zur gedankenlosen Konvention.
      Die von Ihnen angesprochene Massentauglichkeit ist meines Erachtens genau diese gedankenlose Konvention. Lyrik findet an den Rändern der Gesellschaften und der Sprachen statt. Der Vorteil dabei: Sie darf alles, sogar sich von der Syntax verabschieden, weil sie sich unterm Radar bewegt. Und wenn sie sich trotzdem einmal als massentauglich erweist, beruht dies oft genug auf dem Missverständnis, dass sie eine Dienstleistung für den Gefühlshaushalt des Publikums sei.
      Meine kurz skizzierten Einwände gegen den Reim als Wesensmerkmal des Lyrischen sind keine Einwände gegen den Reim als literarisches Verfahren. Im Gegenteil. Im Reim macht die Sprache des Reimenden sich ihren Reim auf die Sachen. Wenn er gelingt.
      Mit den besten Grüßen, Ihr Achim Raven

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