Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.
Reiner Kunze: Sensible Wege – Achtundvierzig Gedichte und ein Zyklus, das neue buch, Rowohlt 1976
Dass wir während des großen Streiks an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel Mitte der Siebzigerjahre ein teach-in zum Thema Gedichte angeboten haben – unter freiem Himmel – mochte ja noch angehen. Es setzten sich auch etliche Kommilitonen und Kommilitoninnen zu uns ins Gras, aber statt der wohl von vielen erwarteten Lebenshilfe durch Agitprop-Poesie, hatten wir Lyrik auf die Matritzen gehämmert und in kleiner Auflage abgenudelt, die rundherum für Staunen sorgte: Gedichte von Reiner Kunze nämlich. Für uns junge Hüpfer eine ganz neue Entdeckung, ein ganz neuer Ton. Etwas auf den ersten Blick Zerbrechliches, meist auf wenige Zeilen Reduziertes, von dem – jedenfalls für uns – eine unerhörte Kraft ausging. Eine subversive Kraft, ein Flüstern im lärmenden Maschinenraum der Welt, das alles andere übertönte, wenn man sich darauf einließ. Sensible Wege hieß der schmale Band, aus dem wir uns bedient hatten. Erschienen in der von Jürgen Manthey herausgegebenen Taschenbuchreihe das neue buch, die uns z.B. auch mit Gedichten von Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann und Peter Rühmkorf überraschte und süchtig machte.
Dass der knapp über 40 Jahre alte Reiner Kunze, damals noch in der DDR lebend, „drüben“ gewaltigen Ärger mit der Meinungs- und Literaturpolizei hatte, wussten wir. Dass er durch seine Veröffentlichungen im Westen praktisch die berufliche Existenz im eigenen Lande aufs Spiel gesetzt und das Spiel verloren hatte, war uns bekannt. Auch wenn wir nicht mal annähernd ahnten, mit welch denunziatorischer Brutalität ihm öffentlich zugesetzt worden war in den letzten Jahren, als etwa Max Walter Schulz, Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbands, nach der Erstveröffentlichung von Sensible Wege bei Rowohlt im Jahr 1969 coram publico im Neuen Deutschland eine Art literarisches Todesurteil über seinen Kollegen verhängte:
Es ist alles in allem (…) der nackte, vergnatzte, bei aller Sensibilität aktionslüsterne Individualismus, der aus dieser Innenwelt herausschaut und schon mit dem Antikommunismus, mit der böswilligen Verzerrung des DDR-Bildes kollaboriert – auch wenn das Reiner Kunze, wie anzunehmen, nicht wahrhaben will.
Und wir ahnten natürlich nicht, wie glasklar der von uns verehrte Poet Peter Rühmkorf in seinem Verlagsgutachten für den Rowohlt Verlag schon eine frühe Manuskriptfassung von Sensible Wege analysiert hatte. Nachzulesen in seiner 1978 im selben Verlag erschienenen Strömungslehre 1:
Die Gedichte sind in einem spezifischen Sinn DDR-Produkt, was Thematik und Schreibweise angeht. Verklausuliert und chiffriert, durchs Sinnbild oder durch die Blume werden Ausbruchsgelüste geäußert, Fluchtsituationen beschrieben, Furcht vor der Denunziation und Angst vor Entdeckung angedeutet, die öde Sinnlosigkeit herrschender und bedrückender Reglements dargestellt und die Lust am Alleingang besungen, kurz, die Verhältnisse in jener besonderen gesellschaftlichen Druckkammer angezeigt, die DDR heißt. Entgegen der Überfütterung mit politischen Pflichtinhalten bricht sich in Kunzes Gedichten noch mal das Private seine schmale Bahn, sei es in Lobliedern auf die Liebe, die Freundschaft, die Blumen und die schönen Künste oder vielleicht in einem erkenntnistiefen Blick in einen „brunnen im süden Mährens, / der einschläft, / das moos unterm arm“.
Gewiss hat Peter Rühmkorf recht, wenn er die Gedichte als DDR-Produkt bezeichnet, aber ihre Wirkung, das haben wir damals intuitiv gespürt, vermochten diese Gedichte auch ohne den exotisch anmutenden Herkunftsstempel Made in the GDR zu entfalten. Mit voller Wucht haben sie uns damals erreicht in der sogenannten bleiernen Zeit, im deutschen Herbst, als eine Art Gegengift zur überall spürbaren Brutalisierung und Verhärtung des politischen und gesellschaftlichen Alltags.
Für mich sind die Gedichte Reiner Kunzes seit mittlerweile einem halben Jahrhundert zu ständigen Begleitern geworden. Nicht nur der in diesem Sinne bahnbrechende Band Sensible Wege, sondern sein lyrisches Gesamtwerk, zu dem ganz selbstverständlich auch Kindergedichte gehören und das der S. Fischer Verlag im vergangenen Jahr zu seinem 90. Geburtstag noch einmal in einer erweiterten, gebundenen, fast fünfhundert Seiten umfassenden kleinformartig-handlichen Ausgabe vorgelegt hat. Ein tröstendes und Kraft spendendes Stundenbuch. Unverzichtbar. Und natürlich ein fabelhaftes Denkmal für den unbeugsamen Freigeist!
© Michael Augustin, 2024
Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.