Augustins Fundsachen, Folge 21: Plattdeutsche Kriegsgedichte von Gorch Fock

Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.

 

Plattdeutsche Kriegsgedichte von Gorch Fock

Porträt Wilhelm Blieffert vor dem Krieg
Wilhelm Blieffert vor dem Krieg (alle Fotos und Repros: Michael Augustin)

Es wird in der zweiten Maiwoche 1915 gewesen sein, als der Postbote in der Lübecker Ludwigstraße 6 einen Brief zustellte. Wer den Umschlag geöffnet und wer den Brief zuerst gelesen hat, vermag ich nicht zu sagen. Meine schwedische Urgroßmutter Anna Persdotter oder mein in Rostock geborener Urgroßvater, der Heizer August Blieffert? Vielleicht auch ihr damals noch vierzehnjähriger Sohn Fiete – mein zukünftiger Opa – oder eine seiner Schwestern? Ein entsetzliches Schreiben, wie es seinerzeit im ersten Kriegsfrühjahr in tausendfacher Ausfertigung mit gleichlautenden Textbausteinen nicht nur in Deutschland für Trauer und Verzweiflung gesorgt hat:

Die Todesnachricht (handschriftlicher Brief)
Die Todesnachricht
Wilhelm Blieffert als Soldat in Uniform 1914
Wilhelm Blieffert 1914


Houthulst, den 3.5.15

Das Battaillon erfüllt hiermit die traurige Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihr Sohn am 26. April bei Lizerne den Heldentod gefunden hat. Im Namen des Bataillons spreche ich Ihnen zu diesem herben Verluste die aufrichtigste Teilnahme aus. Ihr Sohn war uns allen ein lieber Kamerad, dessen Andenken wir stets hoch in Ehren halten werden. v.Tabouillot – Major und Kommandeur


20 Jahre, 8 Monate und 16 Tage hat er zu leben gehabt laut Sterbeurkunde, der Jäger der 4. Kompanie Wilhelm Blieffert. Wenige Tage vor seinem Tod in dieser zweiten von insgesamt vier Flandernschlachten, während der die Deutschen bei ihrem gescheiterten Vorstoßversuch erstmals Chlorgas einsetzten, hatte er auf einer Feldpostkarte seinen Vater in Lübeck noch um Nachschub an Rasierseife gebeten, da er sich als gelernter Friseur wohl als Frontbarbier ein paar Extrazigaretten verdienen konnte.

 

Porträt Gorch Focks in Marine-Uniform in den Vaterstädtischen Blättern 1916
Porträt Gorch Focks in den Vaterstädtischen Blättern 1916
Veröffentlichung Plattdeutsche Kriegsgedichte (Folge I von IV)
Plattdeutsche Kriegsgedichte (Folge I von IV)

Über meinen Urgroßvater habe ich gehört, dass er ein begeisterter Leser der Werke des niederdeutschen Klassikers Fritz Reuter gewesen ist und dass er, wie seine Söhne und Töchter, Plattdeutsch gesprochen hat. Rostocker Platt in Lübeck. Das klang dort zwar ein büschen anders als in seiner Heimatstadt, aber eine Hürde war das nicht für einen guten Klönschnack von Hanseat zu Hanseat. Es könnte also durchaus sein, dass sich August Blieffert nicht nur mit den Riemels des Mecklenburgers Fritz Reuter vergnügt hat, sondern auch mit der Lektüre plattdeutscher Gedichte aus den Federn anderer Poeten der niederdeutschen Lande zwischen Flensburg und Bremen. Wer weiß, vielleicht hat er auch mal 25 Pfennige investiert, um nach Feierabend in einem Heftchen mit nagelneuen plattdeutschen Gedichten des damals schon recht populären Schriftstellers Johann Kinau zu schmökern. Dessen Künstlernamen noch heute alle Welt kennt, denn seit 1933 hat es eine kontinuierliche Reihe von Großseglern gegeben, die nach ihm benannt worden sind. Wer hätte ihn noch nicht gehört, den Namen des aktuellen, zu Unsummen kürzlich grundüberholten Segelschulschiffes der Bundesmarine Gorch Fock?

Veröffentlichungen Plattdeutsche Kriegsgedichte (Folgen II-IV)
Plattdeutsche Kriegsgedichte (Folgen II-IV)

Von Johann Kinaus alias Gorch Focks Roman Seefahrt ist not!, der gerade in der zweiten Auflage erschienen war, erwarb die Hamburger Oberschulbehörde 9000 Exemplare, um 7600 davon zu Weihnachten 1913 den im letzten Schuljahr stehenden Knaben als Mitgabe für den Lebensweg zu schenken. So steht es zu lesen auf der Rückseite einer jener wohlfeilen achtseitigen, mit jeweils ein oder zwei Grafiken illustrierten Heftchen mit neuen Gedichten, die man, wie gesagt, für gerade mal 25 Pfennige erwerben konnte. Ich habe für die vier zwischen 1914 und 1915 im Verlag von M. Glogau jr. zu Hamburg gedruckten Broschüren antiquarisch vor Jahren mal acht Euro auf den Tisch gelegt. Mein Urgroßvater hätte zu seiner Zeit eine Mark dafür zahlen müssen. Um sie vielleicht seinem ebenfalls Plattdeutsch sprechenden Sohn in den Tornister zu stecken oder als Beilage zur Rasierseife, als vergnüglich gedachte Lektüre, dem jungen Soldaten und seinen hanseatischen Kameraden der 4. Kompanie zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. Kriegsgedichte. Plattdeutsche Kriegsgedichte von Gorch Fock voller Schwung, Tschingderassabum und Täterätätä.

Auf Hochdeutsch kennt man solche Reimereien im Stile von Jeder Schuss ein Russ / Jeder Stoß ein Franzos. Aber auf Plattdeutsch? Dieser angeblich so drolligen, gemütlichen und herzerwärmenden Sprache? Heft 1: John Bull, John Bull; Heft 2: Uns Mariners; Heft 3: Op em, Jungs!; Heft 4: Zeppelin kummt!

Verse von Gorch Fock 1915
Gorch Fock 1915
Buchseite mit Gorch Focks "De dicke Berta" von 1914
Gorch Focks “De dicke Berta” (1914)

Vermutlich hat Gorch Fock diese humoristisch-chauvinistischen Propagandagedichte allesamt zu Papier gebracht, bevor es für ihn „in echt“ an die Front ging und nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte. Als Wilhelm Blieffert, der große Bruder meines Opas, schon vor Ypern im Schützengraben lag und noch genau 26 Tage zu leben hatte. Gorch Fock wurde am 1. April 1915 eingezogen, absolvierte in Bremen seine militärische Grundausbildung, wurde als Infanterist in Serbien, Rußland und in Verdun eingesetzt und wechselte, obwohl notorisch zur Seekrankheit neigend, auf eigenen Wunsch zur Marine. Während der Seeschlacht am Skagerrak kam er ums Leben. Seine Leiche wurde nördlich von Göteborg auf der menschenleeren schwedischen Insel Väderöbod an Land gespült und im Juni auf Stensholmen beerdigt. Er hat sogar einen Grabstein bekommen, auf dem bis heute der Titel seines Erfolgsromans zu lesen ist Seefahrt ist not! Immerhin!

Wo aber genau der Sohn der Schwedin Anna und des Rostockers August, der große Bruder meines Opas Fiete, mein Großonkel, der 20jährige Wilhelm Blieffert, in der Erde Flanderns verscharrt ist, weiß niemand.

Wi hefft dat seggt un mokt dat wohr: / Gott – wees mit uns! / Denn kriegt wi’t klor.

 

© Michael Augustin, 2024

 

Porträt Michael Augustin von Jenny Augustin
(Bild: Jenny Augustin)

Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.


Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.

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