Wo auch immer der »Weltreisende in Sachen Poesie« sich gerade wieder herumtreiben mag: Wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.

Und schon wieder so eine geradezu magische Fundsache aus dem traditionell wohlversorgten öffentlichen Bücherschrank am Friedensplätzchen im Düsseldorfer Stadtteil Unterbilk! Magisch deshalb, weil dieses in einfache Boschur gekleidete Taschenbuch mich an die aufregenden Entdeckungen erinnert, die meine poesieverrückten Freunde und ich damals machen durften, ab Ende der Siebzigerjahre, als Manfred Kluge im Wilhelm-Heyne-Verlag München seine wohlfeile Lyrikreihe herausgab, deren Bändchen, was heute angesichts der allgemeinen Lyrikmuffelichkeit im Buchhandel kaum noch vorstellbar ist, tatsächlich in jedem Buchladen zu finden waren zwischen Garmisch und Flensburg: Rimbaud, Meckel, Kunert, Ferlinghetti, Trakl, Ritsos, Heise, Gustafsson, Tranströmer, Piontek, Pastior, Brechbühl, Borges, Brodskij, Ginsberg und viele, viele andere. Eine umwerfende Auswahl moderner Klassiker, internationaler Zeitgenossen und gegenwärtiger Deutschsprachler, die meisten Exemplare zu erwerben für gerade mal DM 4,80. Allerdings fand sich in dieser paradiesischen poetischen Taschenbibliothek unerhörterweise nur sehr wenig Lyrik von Frauen. Skandalös wenig, um es mal so zu sagen.
Der Bobrowski-Band, den ich mir aus dem Bücherschrank geangelt habe, ist 1978 erschienen, als Bobrowski, der schon als 48-Jähriger gestorben war, bereits seit dreizehn Jahren nicht mehr lebte. Darin enthalten sind seine beiden zu Lebzeiten sowohl in der DDR als auch in der BRD bzw. Westberlin veröffentlichten schmalen Bändchen Sarmatische Zeit (1961) und Schattenland Ströme (1962). Knapp einhundert Gedichte, die ihn berühmt gemacht haben in Ost und West, spätestens als er, der in Ostberlin als Lektor im Union-Verlag arbeitete, anno 1962 völlig überraschend den Preis der Gruppe 47 erhielt. Überraschend vielleicht auch deshalb, weil er in seiner Lyrik und in seiner Prosa einen Zuständigkeitsbereich für sich beanspruchte, der im wahrsten Sinne abseits von allen pulsierenden Literaturszenen lag und auch für Sprachspielereien à la Heißenbüttel gänzlich ungeeignet war. Worum es ihm dabei ging, hat Bobrowski in einem Radiointerview erklärt:

Zu schreiben begonnen habe ich am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten.
Bobrowski war es, der mir in den frühen Siebzigerjahren mit seinen Gedichten, seiner kurzen Prosa und mit seinem postum veröffentlichten Roman Litauische Claviere einen völlig neuen und gangbaren Weg geebnet hat in die Landschaft und in die vertrackte Kulturmelange um die Memel herum, woher nämlich väterlicherseits auch meine Leute stammen. Wie Bobrowski war auch mein Vater gebürtiger Tilsiter. Wie Bobrowski hatte auch er engste familiäre Bindungen ins Memelland nördlich des Flusses. Litauische Claviere entpuppte sich für mich als eine Art Familienroman, als ein Stück Literatur, das mit dem Leben und der Wirklichkeit meiner Familie um das Jahr 1936 sehr direkt und unmittelbar zu tun hatte. Und genau das gilt auch für die Gedichte Bobrowskis, die niemals nur Landschaft als solche beschreiben, nicht einfach nur Naturgedichte sein wollen, sondern Landschaft immer als einen Raum mit Menschen in den Blick nehmen.
In seinem wundervollen Nachwort dieses Bändchens, das als Nr. 2 der Reihe Heyne Lyrik erschienen ist, schreibt Horst Bienek über die Gedichte:
Es sind Verse der Erinnerung. In ihnen erzählt er die Legenden seiner Heimat, die Schicksale von Bauern, Fischern und jüdischen Händlern, in ihnen macht er die tote Sprache der Pruzzen lebendig und beschwört die Bilder der Kindheit. (…) Seine Dichtung spricht mythisch und doch heutig über Landschaft und Geschichte, über den Menschen und den Kosmos, sie drückt Endzeit und Hoffnung aus.

In Gesprächen mit internationalen Dichterkollegen aus Litauen, Polen, Lettland und Russland hat sich Johannes Bobrowski über die Jahre hinweg für mich immer wieder als eine Art »Türöffner« erwiesen, als lyrischer Brückenbauer. Manchmal habe ich den Eindruck, dass seine Gedichte außerhalb Deutschlands noch mehr geschätzt werden als hierzulande – die Übersetzer jedenfalls haben gute Arbeit geleistet, scheint mir. Und die Internationale Johannes-Bobrowski-Gesellschaft, die ich im Jahre 2000 in Berlin mitbegründen durfte (in der guten Gesellschaft von Klaus Wagenbach und Ingo Schulze, um nur zwei zu nennen) kümmert sich wacker darum, dass Bobrowskis Werk unter die Leute kommt und unter den Leuten bleibt.
Auf der reichhaltig bestückten Website der Gesellschaft kann man einige Gedichte nachlesen, die auch in dem Heyne-Band abgedruckt sind – und Bobrowski ist höchstpersönlich zu hören mit einem Gedicht, das unter die Haut geht und mit Zeilen endet, die sehr viel sagen über das, worauf es ihm ankam, und die sich so leicht nicht wieder vergessen lassen, wenn man sie einmal gehört hat vom Dichter: Sprache / abgehetzt / mit dem müden Mund / auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn
https://johannesbobrowski.de/sprache/

Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals »Poetry on the Road«.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.