Augustins Fundsachen, Folge 19: »Leichter als Luft – Moralische Gedichte« von Hans Magnus Enzensberger, Suhrkamp 1999

Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.

 

Dankbar in Hannover
Hans Magnus Enzensberger: Leichter als Luft – Moralische Gedichte, Suhrkamp, 1999

Michael Augustin (links) und Hans Magnus Enzensberger
Michael Augustin (links) und Hans Magnus Enzensberger (Fotos: privat)

Vielleicht wäre es eine Idee, mein Leben am chronologischen Maßband ausgewählter Dichterlesungen zu erzählen, sollte ich jemals so weit gehen, eine Art Autobiographie in Angriff zu nehmen. Ganz am Anfang könnten dann meine Eltern stehen, die um das Jahr 1957 herum für ihren Vierjährigen das Gedicht Dunkel war’s, der Mond schien helle rezitieren. Im nächsten Kapitel dann, ein paar Jahre später, gefolgt vom plattdeutschen Dichter Walter Volbehr am Tage meiner Einschulung in der Aula der Lübecker Klosterhof-Volksschule, über Hans Erich Nossacks Lesung in der Oberschule zum Dom bis hin zu Erich Fried, Peter Handke, Günter Grass und vielen, vielen anderen, die der Kieler Buchhändler Eckart Cordes in die Fördestadt gelockt hat Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre. Von den späteren Begegnungen mit internationalen Poetinnen und Poeten auf Festivals, zu denen ich einladen durfte oder selber eingeladen wurde, mal ganz abgesehen: Gioconda Belli, Seamus Heaney, Elisabeth Borchers, Denise Levertov, Remco Campert, Ko Un, Sarah Kirsch, Adrian Mitchell, Wole Soyinka, Robert Creeley, Herta Müller … Ja, das wäre doch eine feine Autobiographieschreibidee.

"Leichter als Luft - Moralische Gedichte" von Hans Magnus Enzensberger
Buchcover-Abbildung (Suhrkamp-Verlag)

Und wenn ich dann gezwungen wäre, von der unvergesslichsten Lesung aller unvergesslichen Lesungen zu berichten, würde ich ein Buch in die Hand nehmen, das 1999 bei Suhrkamp erschienen ist und mich immer noch umhaut, wenn ich darin lese oder in den beiden Vorgängerbänden des Autors, die in ähnlich schöner, sorgfältiger und angemessen großzügiger Ausstattung publiziert worden sind: Zukunftsmusik (1991) und Kiosk (1995) von Hans Magnus Enzensberger. Der Band, von dem ich hier spreche, ist damals wenige Tage vor dem 70. Geburtstag des Dichters erschienen und lag in seiner Eigenschaft als Rezensionsexemplar druckfrisch und duftend auf meinem Bremer Schreibtisch: Leichter als Luft – Moralische Gedichte. Eine poetische Zustandsbeschreibung auf den allerletzten Drücker zur Jahrhundertwende 1999 / 2000. Am Ende des Jahrhunderts, heißt es da im Klappentext, von dem wir vermuten dürfen, dass HME ihn vielleicht sogar persönlich gestrickt hat, ist das einzig Richtige nirgends in Sicht. Wo Politik und Alltag, Krieg und Liebe, Wahn und Vernunft, Idyll und Katastrophe unauflöslich ineinander verknäult sind, läßt sich das, was der Fall ist, nur noch im Modus des Tragikomischen beschreiben. Und wer, bitte sehr, sollte das besser meistern, als der Meister aus München?

Während der hinreißenden Lektüre des jungfräulichen Druckwerks am letzten Oktoberwochenende jenes Jahres, ereilte mich wie aus heiterem Himmel die Nachricht, dass Hans Magnus Enzensberger zwei Tage später, am Dienstag, also neun Tage vor seinem runden Geburtstag, im Kleinen Sendesaal des NDR Funkhauses Hannover gastieren werde zu einer seiner seltenen Lesungen, um dort u.a. aus seinem neuen Gedichtband vorzutragen! Warum, so fragte ich mich empört und vorwurfsvoll, hast du davon nicht gewusst? Wie kann es sein, dass dir so etwas schlicht und einfach durch die Lappen geht, denn das war mir natürlich klar: diese Veranstaltung ist längst ausverkauft. Und nicht nur wegen des Gastes Hans Magnus Enzensberger, denn mit ihm auf der Bühne werde einer seiner Weggefährten zu erleben sein. Einer, der knapp eine Woche zuvor seinerseits den 70. Geburtstag feiern durfte: Peter Rühmkorf!!! Enzensberger & Rühmkorf auf einer Bühne, im Gespräch, im „Wechselgesang“, beim poetischen Pingpong: Jahrgang 1929 – Zwei Lyriker im Doppelbild. NDR-Literaturredakteur Hanjo Kesting hat sie treffend als Brüder im Geiste und Zwillingskinder desselben literarischen Temperaments bezeichnet. Unfassbar mein Glück, als es eben diesem, meinem legendären Redakteurskollegen des Konkurrenzsenders doch noch gelang, mir against all odds eine Eintrittskarte zu beschaffen. Seine gute Tat hat er nicht bereuen müssen.

Widmung an Michael Augustin von Hans Magnus Enzensberger
Widmung an Michael Augustin von Hans Magnus Enzensberger

Im Gegenteil! Denn als ich mich, aus Bremen im Hannöverschen Funkhause eingetroffen, kurz vor Beginn der Veranstaltung bei Hanjo Kesting bedanken wollte und ihn in einem Raum hinter der Bühne antraf, wurde ich Zeuge eines etwas panischen Dialogs zwischen ihm und Hans Magnus Enzensberger. Beide hatten nämlich soeben festgestellt, dass weder der Redakteur noch der Dichter höchstpersönlich über ein Exemplar des neuen Gedichtbands verfügten. Enzensberger hatte Leichter als Luft nicht extra im Handgepäck aus München anschleppen wollen, weil er davon ausgegangen war, es werde schon ein Exemplar im Funkhause vorhanden sein, während der Redakteur in der Annahme, der Dichter werde natürlich das neue Buch mitbringen, sein eigenes druckfrisches Rezensionsexemplar in der heimischen Wohnung auf dem Nachttisch hatte liegen lassen. Auch die Buchhandlung, die für den gefüllten Büchertisch sorgte, musste passen, denn der Band war noch gar nicht ausgeliefert worden. Guter Rat war teuer, aber es fand sich eine Lösung – leichter als Luft. Denn ich hatte mein Exemplar natürlich noch schnell eingesteckt, bevor ich in Bremen den Zug nach Hannover bestieg.

Doppel-CD "Jahrgang 1929: zwei Lyriker im Doppelbild
Doppel-CD “Jahrgang 1929: zwei Lyriker im Doppelbild / CD-Cover-Abbildung (NDR / Verlag Hoffmann & Campe)

Und so kam es, dass HME während dieser denkwürdigen Veranstaltung, der für mich unvergesslichsten aller unvergesslichen Dichterlesungen, seine neuen Gedichte aus meinem druckfrischen Exemplar vorgelesen hat und es mir anschließend mit einer Widmung zurückgab: Leihgabe von Michael Augustin für den Verfasser Hans Magnus Enzensberger – dankbar in Hannover, 1999

Einen atmosphärisch sehr authentischen Mitschnitt der sensationellen Doppellesung der beiden 1929er Poeten hat der Verlag Hoffmann & Campe 2002 auf zwei Audio-CDs veröffentlicht, im neuen Jahrhundert, als sie schon wieder ganz anders aussah, die hiesige Welt / aus Schmerz, Schnee, Lust, / Kartoffelsalat und Tod.

 

© Michael Augustin, 2024

 

Porträt Michael Augustin von Jenny Augustin
(Bild: Jenny Augustin)

Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.


Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.

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