Augustins Fundsachen, Folge 16: »Flor de Greguerías« von Ramón Gómez de la Serna, Madrid 1935

Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.

 

Ramón Gómez de la Serna: Flor de Greguerías
Coleccion Universal, Espasa-Calpe, S.A., Madrid 1935

Ich bevorzuge gebrauchte Schreibmaschinen, weil sie erfahren sind und sich in der Rechtschreibung auskennen.

Buchcover-Abbildung, Porträt Ramón Gómez de la Serna
Buchcover-Abbildung, Porträt Ramón Gómez de la Serna

Die Greguerías des Ramón Gómez de la Serna sind hochinfektiöse literarische Gebilde. Wer anfängt, sie zu lesen, kann nicht wieder damit aufhören und sieht sich möglicherweise am Ende dazu gezwungen, eigene Greguerías zu schreiben – oder das zumindest zu versuchen. Natürlich nach dem Rezept des Meisters, der zwischen 1910 und 1961 nach eigenen Worten und eigener Überschlagsrechnung rund 10.000 dieser Minis zu Papier gebracht haben will: humorismo + metáfora = greguería. Nihilistisch dürfen sie sein und surreal schön wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch, auch wenn der Surrealismus in der Frühzeit der Greguerías noch gar nicht erfunden war und dieser fabelhafte Spruch des Künstlers Man Ray erst sehr viel später über dessen Lippen kommen sollte. Greguerías sind keine Aphorismen, keine Sentenzen, Epigramme, Maximen oder sonstige Lebensweisheiten, haben aber durchaus etwas von Lichtenbergs Sudeleien. Sie leben davon, erstaunliche, eigentlich unsichtbare und ungeahnte Verwandtschaften zwischen den Dingen zu benennen.

"Flor de Greguerías" von Ramón Gómez de la Serna
Buchcover-Abbildung (Verlag Espasa-Calpe, 1935) / Fotos: Michael Augustin

Wer sich die Greguería-Brille aufsetzt, schreitet grinsend, kichernd und lachend durch die Welt, weil er oder sie sieht, was die anderen nicht sehen können. Wenn es zum Beispiel heißt: Der Mond ist der Badezimmerspiegel der Nacht. Oder: Das Etikett ist der Sabberlatz der Flasche. Sehr einprägsam und sinnlich auch die Feststellung, der Büstenhalter sei die Maske der Busen oder die gewiss auf einschlägigen Erfahrungen basierende Aussage: Stühle nutzen die Dunkelheit, um ihren Besitzern ein Bein zu stellen. Was schon damals, im ersten Drittel des 20. Jahrhundert aus den Auspuffen der Automobile strömte, erkannte Ramón scharfsinnig mit gerümpfter Großstädternase als Weihrauch der Zivilisation. Wer‘s gern etwas härter mag und es mit geschichtlichen Erkenntnissen hält, wird ebenfalls prompt und lakonisch bedient: Die Guillotine wurde erfunden als Rasierapparat der französischen Revolution.

1917 erschien auf immerhin 320 Druckseiten die allererste Sammlung dieser merkwürdigen und eigenständigen Miniaturen, mit deren Gattungsbezeichnung der ungemein kreative Autor auf das Quieken frischgeborener und soeben dem Mutterleibe entschlüpfter Ferkelchen anspielte. Auch „Kauderwelsch“ wäre eine der möglichen Bedeutungen der vom Autor gewählten Bezeichnung für seine Schöpfungen.

Verlagssignet Espasa-Calpe S.A.
Verlagssignet Espasa-Calpe S.A.

Meine schon etwas vergilbte Ausgabe der Greguerías, die ich vor etlichen Jahren in Andalusien auf einem Flohmarkt für zwei oder drei Euro erwerben konnte, ist 1935 erschienen. In einem Jahr also, als der Autor, geboren im Schnapszahljahr 1888, noch nicht ahnen konnte, dass die Zeit der Kunst- und Gedankenfreiheit im republikanischen Spanien schon bald ablaufen und er, der künstlerische Tausendsassa, Wahnwitzler, Kollegeninspirator, kreative Pressemann (mit Bleistift und am Radiomikrophon), der unglaublich produktive Autor und Aktionskünstler, der geliebte Gastgeber der Intellektuellenstammtisches im Café Pombo zu Madrid, schon ein Jahr später, im September 1936 fern der Heimat auf Dauer in Buenos Aires landen würde. Dem blutigen Bürgerkrieg und der Finsternis der darauf folgenden Franco-Diktatur entkommen, hat er bis zu seinem Tode 1963 als Emigrant in Argentinien gelebt. Um die 100 Bücher sämtlicher Genres hat er geschrieben, manche behaupten, er habe es sogar locker auf 150 Titel gebracht.

"El Circo" von Ramón Gómez de la Serna
Buchcover-Abbildung

Nicht viele davon haben einen Weg ins Deutsche gefunden, aber immerhin befindet sich unter denen, die es geschafft haben, seine große Enzyklopädie der circensischen Welt, El Circo, im Original erschienen 1924, auf Deutsch erst Anno 2000 unter dem Titel Der Cirkus in der Übersetzung des wunderbaren Fritz Rudolf Fries, der dem geistesverwandten Autor bei allen sprachlichen Trapezkunststücken und Clownereien zu folgen vermochte. Weltruhm aber, ja, den Status einer literarischen Legende, erlangte Ramón Gómez de la Serna, den Pablo Neruda in einem Widmungsgedicht liebevoll als Bär aus Zuckerguß bezeichnete, mit seinen selbst erfundenen und in alle erdenklichen Sprachen übersetzten Greguerías.

"Greguerías" von Ramón Bómez de la Serna
Buchcover-Abbildung (Limes Verlag)

Der 1958 im Limes Verlag Wiesbaden erschienenen Band mit einigen Hundert Greguerías, ausgewählt und übertragen von Marlene Mies, fiel mir vor ein paar Jahren in einem Leipziger Antiquariat in die Hände, für fünf Euro, die ich gern bezahlt habe. Die bislang beste und umfangreichste Sammlung, illustriert von Klaus Detjen und von Hans-Martin Gauger mit einem exzellenten Nachwort versehen, hat Rudolf Wittkopf 1994 vorgelegt: Greguerías – Die poetische Ader der Dinge (Straelener Manuskripte Bd.11), Straelen 1994.

Eine Art Trigger-Warnung vor den Greguerías habe ich ja schon eingangs ausgesprochen. Aber lassen Sie sich dadurch bloß nicht abhalten von der Lektüre. Wer die Greguerías noch nicht kennt, sollte sie schleunigst kennen lernen! Fragen Sie Ihren Antiquar!

Es ist niemals zu spät, wenn die Suppe gut ist.

(Übertragung der Zitate aus dem Spanischen: Michael Augustin)

© Michael Augustin, 2022

 

Porträt Michael Augustin von Jenny Augustin
(Bild: Jenny Augustin)

 

Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.

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