Wo auch immer der „Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.
Neues Altes vom Bodensee
Martin Walsers Sprüche aus den Siebzigern
Ich weiß noch, dass einige Hörerinnen und Hörer bass erstaunt waren, als sie vor mittlerweile fast anderthalb Jahrzehnten in meiner Lyriksendung im Kulturprogramm von Radio Bremen hin und wieder Gedichte eines Autors zu hören bekamen, den sie offenbar so gar nicht in Verbindung zur Poesie bringen konnten. Prosa, Romane und Novellen, ja klar. Essays, kontroverse politische Interventionen, ja, natürlich, all das war man wie selbstverständlich von ihm gewohnt, dem Alten vom Bodensee, der damals immerhin schon so um die 80 Jahre auf dem Lebenskonto hatte. Aber dass Martin Walser veritable, eindringliche und bewegende Gedichte geschrieben hat und sie dann auch noch mit Saft und Kraft und Schisslaweng vorzutragen wusste, diese Tatsache war wohl für viele neu und überraschend, wie ich feststellen durfte. Auf der 2007 erschienenen CD Unglücksglück & Das geschundene Tier kann man ihn mit formidablen Gedichten hören, Walser at his very best. Ein Rezitationskünstler von Schrot, Korn und Gnaden.
Bereits 1980 war er mal, für alle an- und nachhörbar, zu grandioser Form des mündlichen Vortrags aufgelaufen: in seiner Rede bei der Entgegennahme des Schiller-Gedächtnispreises des Landes Baden-Württemberg, erschienen unter dem Titel Mein Schiller als eine der heute noch mit etwas Glück gelegentlich antiquarisch aufzuspürenden Langspielplatten des Suhrkamp Verlags. (Ich besitze sogar eine ganz frühe LP mit der Stimme des jungen Hans Magnus Enzensberger, der übrigens einst in den 1950ern, wie Walser und der ältere Kulturradiopionier Alfred Andersch, im Stuttgarter Funkhaus seine Piselotten verdiente.) Nun ist natürlich eine Schillerrede nicht gleichzusetzen mit dem Vorlesen von Gedichten, aber die Wucht und Verve, die Lust an der Sprache und am Klang, die gehen hier Hand in Hand und Mund an Mund.
Diesen poetisch-akustischen Nachklang, den hatte ich wohl auch noch in den Ohren, als ich unlängst wieder einmal einen Blick in einen der exzellenten, wohlgefütterten und liebevoll gepflegten öffentlichen Bücherschränke in der Stadt Düsseldorf riskierte, wohl wissend, dass unser kleines Haus im heimischen Bremen notorisch überquillt vor lauter Druckerzeugnissen und daher Zurückhaltung angezeigt sein würde. Der öffentliche Bücherschrank, von dem hier die Rede ist, befindet sich direkt am Rheinufer, ganz in der Nähe des NRW-Landtagskomplexes und des neuen, sehr gelungenen kleinen LGBT-Mahnmals.
Bei aller Zurückhaltungsentschlossenheit: wenn ich Bücher aus der 2010 leider untergegangenen, 1949 vom legendären Victor Otto Stomps gegründeten und von Friedolin Reske und Jens Olson bis ans Ende weitergeführten Eremiten-Presse zu Gesicht bekomme, kann ich nicht widerstehen – ich muss sie einfach in die Hand nehmen, diese Meisterwerke der Buchkunst, gestaltet und gedruckt mit Liebe und Hingabe auf fürwahr sinnlichem Papier. Die Liste der hier verlegten Künstler und Autoren ist gewaltig: Günter Bruno Fuchs, Christa Reinig, Günther Uecker, Christoph Meckel, Friedrike Mayröcker, Otmar Alt, Ilse Aichinger, HAP Grieshaber, Johannes Vennekamp, Thomas Kling und et al.
Ja, und diesmal entdeckte ich also einen kleinen Band Martin Walsers, der zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade seinen 51. Geburtstag gefeiert hatte: Der Grund zur Freude – 99 Sprüche zur Erbauung des Bewußtseins veröffentlicht als Numero 88 in der Reihe Broschur. Laut Klappentext EINE REIHE, DIE AUS DER REIHE TANZT. MIT ZEITGENÖSSISCHER LITERATUR UND GRAPHIK IN BIBLIOPHIL GESTALTETEN PREISWERTEN AUSGABEN.
Sprüche sind es in der Tat, immer vier Zeilen lang unter dem rot gedruckten Titel, großzügig gesetzt und durchnummeriert von 1 bis 99, mit viel Platz für die Buchstaben, die Wörter und Worte, wie man es sich wünscht als Autor, jeweils nur zwei Vierzeiler pro Seite. Inhaltlich ein gepfefferter 70er-Jahre-Flash! Damals waren Sentenzen, Epigramme, Sudeleien, Sponti-Sprüche und Aphorismen en vogue. So auch im Erscheinungsjahr des kleinen Bandes, 1978, dem Dreipäpstejahr, dem Filbingerrücktrittsjahr, dem Deutscherherbstfilmjahr … Für Walser das Jahr, in dem auch seine Novelle Ein fliehendes Pferd das Licht der Öffentlichkeit erblickte und sein Romanmanuskipt Jenseits der Liebe bereits beim Herrn Verleger auf dem Schreibtisch lag. Eine Zeit, als er manchen Strauß auszufechten hatte mit Kolleginnen und Kollegen, mit der Presse und da vor allem mit seinem „Lieblingskritiker“ Marcel Reich-Ranicki. Auch für seine offensichtliche (dann aber doch zusehends geringer werdende) Neigung zur DKP hatte er einiges an Prügel einzustecken – von rechts natürlich, das war und ist Ehrensache, aber auch vonseiten des undogmatischen linken Autorenkollegiums.
Die 99 Sprüche dürften heute bei der Lektüre besonders für jene, die die 70er-Jahre selbst miterlebt haben, einige Erinnerungen aufploppen lassen: an den allseits präsenten Ost-West-Konflikt, an DDR und BRD, Biermann, sozialistische Utopien, Diskussionen um Meinungsfreiheit und Dissidenz, Dichtung und Politik, Neo-Pragmatiker und Ausbeuter alter Schule, Haupt- und Nebenfeinde aller Art und allerorten. Die hier versammelten Walser‘schen Sprüche lassen sich vielleicht am besten einordnen zwischen den kurzen Gedichten von Erich Fried und den frechen Epigrammen Arnfrid Astels, auch ein gewisser Brecht-Ton ist unüberhörbar. Ein Zeitdokument, das ich natürlich nicht wieder zurückgestellt habe ins Regal, auch wenn von Walsers poetische Kraft, die er in seinen späteren Gedichten unter Beweis gestellt hat, in diesen Gelegenheitssprüchen wenig zu erkennen ist. Was nicht heißen soll, dass sie nicht doch an der einen oder anderen Stelle aufblitzt. Zum Beispiel, wenn Walser in einem Warnung vor der Allegorie betitelten Spruch seinen schriftstellerischen Furor, seine Wut als eine Katze bezeichnet, die sich füttern läßt und streicheln, um dann, in den Genuss der Wohltaten gekommen, die Frage zu stellen: Was ist Wut?
1980 ist der Band dann übrigens noch einmal herausgekommen, als Taschenbuch bei Rowohlt, weniger bibliophil, aber als weithin gestreute Gebrauchstextesammlung, die damals auch in meinem Bücherschrank gelandet ist. Jetzt, also 42 Jahre später, kann ich überraschenderweise das Original gleich daneben stellen. Der private in Bremen dankt dem öffentlichen Bücherschranke zu Düsseldorf! Habent sua fata libelli….
© Michael Augustin, 2023
Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.