Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 20: Paraphrase oder der stochastische Papagei

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Paraphrase oder der stochastische Papagei

Lag die Betonung der letzten Folge auf dem Kniffligen, geht es in dieser Folge mehr um das Poesiepuzzle.

„Nicht in den Ozean der Welten alle
Will ich mich stürzen! schweben nicht,
Wo die ersten Erschafnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts,
Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!

Nur um den Tropfen am Eimer,
Um die Erde nur, will ich schweben, und anbeten!
Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer
Rann aus der Hand des Allmächtigen auch!

Da der Hand des Allmächtigen
Die grösseren Erden entquollen!
Die Ströme des Lichts rauschten, und Siebengestirne wurden,
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!

Da ein Strom des Lichts rauscht’, und unsre Sonne wurde!
Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen
Der Wolk’ herab und den Orion gürtete,
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen!

Wer sind die tausendmal tausend, wer die Myriaden alle,
Welche den Tropfen bewohnen, und bewohnten? und wer bin ich?
Halleluja dem Schaffenden! mehr wie die Erden, die quollen!
Mehr, wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten!

Aber du Frühlingswürmchen,
Das grünlichgolden neben mir spielt,
Du lebst; und bist vielleicht
Ach nicht unsterblich!“

Dies sind die ersten sechs Strophen aus Friedrich Gottlieb Klopstocks Ode „Die Frühlingsfeyer“ (Oden, Band 1, Leipzig 1798, S. 157 ff.), ein längst aus der Zeit gefallenes Gedicht, dessen sprachliche Wucht nach 225 Jahre aber immer noch spürbar ist.
Um mit so etwas produktiv arbeiten zu können, muss das Sprachmaterial aufbereitet werden. Da die sogenannte künstliche Intelligenz in letzter Zeit viel von sich reden macht, habe ich ChatGPT folgenden Auftrag gegeben:
„Paraphrasiere diese Strophen.“ – Die Antwort kam binnen Sekunden: „Ich werde versuchen, diese Strophen zu paraphrasieren:

Ich möchte nicht in die unendlichen Weiten des Universums eintauchen und mit den ersten erschaffenen Wesen in Ekstase anbeten.
Stattdessen will ich mich auf bescheidene Dinge wie einen Tropfen am Eimer oder die Erde selbst konzentrieren und darin den Schöpfer preisen. Selbst der kleine Tropfen am Eimer wurde von der Hand des Allmächtigen erschaffen, genauso wie die größeren Dinge wie Planeten und Sterne.
Als die Hand des Schöpfers die größeren Welten entstehen ließ, entkam auch der kleine Tropfen am Eimer und wurde Teil dieser Schöpfung. Es ist erstaunlich zu bedenken, dass die Schöpfung so viel umfasst, einschließlich unseres Sonnensystems und der unzähligen Sterne im Universum.
Es ist eine interessante Überlegung, wer alles den Tropfen am Eimer bewohnt hat und wer ich selbst inmitten dieser Schöpfung bin. Aber ich preise den Schöpfer für die Schönheit und Komplexität seiner Schöpfung, die weit mehr ist als die Erde oder sogar die Sterne am Himmel.
Während ich über diese Dinge nachdenke, erinnert mich ein Frühlingswürmchen an die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung des gegenwärtigen Moments. Obwohl das Leben vergänglich ist, ist es ein Geschenk, das wir genießen sollten.“

Autsch! Das ist keine Paraphrase, das ist pures Geplapper.
Zweiter Versuch, mit ChatGPT eine produktive Modifikation des Wortlauts zu erzeugen: Die Übersetzung in eine nah verwandte Sprache mit anschließender Rückübersetzung ins Deutsche.
„Übersetze diese Strophen ins Niederländische.“ Wiederum prompt die Antwort:

 

„Niet in de oceaan van alle werelden
Wil ik me storten! zweef niet,
Waar de eerste geschapen wezens, de juichende koren van de zonen van het licht,
Aanbidden, diep aanbidden! en in verrukking vervagen!

[…]

Maar jij lenteworm,
Die groenachtig goud naast mij speelt,
Je leeft; en bent misschien
Helaas niet onsterfelijk!“

 

Der digitale Dolmetscher funktioniert. Die Rückübersetzung aber war, als hätte ein*e verbiesterte*r Deutschlehrer*in Klopstocks Original aus dem Regal geholt und den Rotstift angesetzt. Nicht nur, dass alle in den letzten 225 Jahren entstandenen Rechtschreibfehler korrigiert sind, insgesamt wurde dudenmäßig glattgebügeltes Deutsch installiert, ohne Rhythmus und Timing und ohne Rücksicht auf Sinn und Verstand:

schweben nicht → wird zu → nicht schweben
die Jubelchöre → wird zu → die jubelnden Chöre
Anbeten, tief anbeten! → wird zu → Tief anbeten
vergehn → wird zu → vergehen
Um die Erde nur → wird zu → Nur um die Erde
Der Tropfen am Eimer / Rann aus der Hand des Allmächtigen auch! → wird zu → Der Tropfen am Eimer / Fiel auch aus der Hand des Allmächtigen!
Die grösseren Erden entquollen! → wird zu → Die größeren Welten entstanden!
Siebengestirne wurden → wird zu → Siebensterne wurden geboren
Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! → wird zu → Da entkamst auch du, Tropfen, aus der Hand des Allmächtigen!
Da ein Strom des Lichts rauscht’, und unsre Sonne wurde! / Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen / Der Wolk’ herab und den Orion gürtete, / Da entrannest du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! → wird zu → Als ein Strom des Lichts rauschte und unsere Sonne entstand! / Eine Welle stürzte herab wie von einem Felsen, / Die Wolken umhüllten Orion, / Da entkamst auch du, Tropfen, aus der Hand des Allmächtigen!
die Myriaden alle / → wird zu → die unzähligen
Welche → wird zu → Die
bewohnten → wird zu → bewohnt haben
Halleluja dem Schaffenden! mehr wie die Erden, die quollen! → wird zu → Halleluja dem Schöpfer! Mehr als die entstandenen Welten!
Mehr, wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten! → wird zu → Mehr als die Siebensterne, die aus Strahlen zusammenflossen!
Frühlingswürmchen → wird zu → Frühlingswurm
Ach → wird zu → Leider

Das einzige, was hier passiert, ist nicht gegen die schulmäßigen Regeln der Sprache zu verstoßen.
Dritter Versuch, mit ChatGPT eine produktive Modifikation des Wortlauts zu erzeugen: Die Übersetzung in eine entfernt verwandte Sprache mit anschließender Rückübersetzung ins Deutsche.

„Übersetze diese Strophen ins Türkische.“ Wieder prompter Service:

 

„Bütün evrenlerin okyanusuna
Dalmak istemiyorum! Uçmayacağım,
Işığın oğullarının coşku dolu koro etrafında,
Derin bir şekilde tapınmayacağım! Ve hayranlıkla yok olmayacağım!

[…]

Ama sen, bahar kurtçukçuğu,
Benim yanımda yeşil-altın oynayan,
Sen yaşıyorsun; ve belki de
Eyvah ki, ölümlüsün!“

 

Bei der Rückübersetzung bestätigte sich ein Verdacht aus dem zweiten Versuch: Das, was hier als verbiesterte*r Deutschlehrer*in figuriert, greift auf Klopstocks Oden zurück und schulmeistert darin herum. Anders ausgedrückt: ChatGPT hat meine Anfrage und den Bezugstext in seinen Datenpool aufgenommen und mir dudenbereinigt als Antwort zurückgeschickt.
Neuer Versuch für die Rückübersetzung, diesmal mit einem anderen Dienst: Google Translate (bzw. Glate):

 

„Zum Ozean aller Universen
Ich will nicht tauchen! Ich werde nicht fliegen
Um den begeisterten Chor der Söhne des Lichts,
Ich werde nicht tief anbeten! Und ich werde nicht in Bewunderung zugrunde gehen!

Nur der Tropfen im Bienenstock,
Ich werde einfach auf die Erde schweben und anbeten!
Alleluja! Alleluja! in den Bienenstock fallen lassen
Es fließt auch ausgerechnet aus der Großen Hand!

Aus der Hand der Großen Hand
Größere Welten sind übergelaufen!
Lichtströme raschelten zu Sternhaufen,
Und du bist dem Griff der Hohen Hand entkommen, verdammt!

Der Lichtstrom floss und wurde unsere Sonne!
Abgestürzt wie Wellen, die von einem Felsen krachen
Die Wolken und der umgebene Orion,
Und du bist dem Griff der Hohen Hand entkommen, verdammt!

Tausende Tausende, die alle Millionen,
Wer lebt und lebt im Tropf? Und wer bin ich?
Halleluja dem Schöpfer! Mehr als Orte, sie sind übergelaufen!
Mehr als sieben Sternhaufen, die Strahlen konvergierten!

Aber du, Frühlingsmade,
Grüngold an meiner Seite spielend,
Du lebst; und vielleicht
Ach, du bist sterblich!“

 

Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Original hat es verschwinden lassen! Immerhin sind ein paar dunkle Perlen entstanden:

  • Und ich werde nicht in Bewunderung zugrunde gehen!
  • Nur der Tropfen im Bienenstock
  • Aus der Hand der Großen Hand
  • Größere Welten sind übergelaufen!
  • Lichtströme raschelten zu Sternhaufen
  • Und du bist dem Griff der Hohen Hand entkommen, verdammt!
  • Mehr als Orte, sie sind übergelaufen!
  • Mehr als sieben Sternhaufen, die Strahlen konvergierten!
  • Aber du, Frühlingsmade, Du lebst; und vielleicht Ach, du bist sterblich!

Aus diesem Trümmerhaufen ließe sich was zurechtlegen. Sogar Sinn wäre möglich. Ließe. Wäre.
Die sogenannte künstliche Intelligenz wertet das gespeicherte („erlernte“) Sprachmaterial statistisch aus und transformiert es nach ebenfalls gespeicherten („erlernten“) Regelsystemen. Da wird auch mal ein Eimer zum Bienenstock. Die künstliche Intelligenz kann eben nur nachplappern, was ihr antrainiert wurde, ein stochastischer Papagei eben („Stochastic parrot“, so bezeichneten die Forscherinnen Emily M. Bender, Timnit Gebru, Angelina McMillan-Major und Margaret Mitchell Sprachmodelle wie ChatGPT. Gebru und Mitchell wurden daraufhin von Google entlassen.)
Der stochastische Papagei hat keinen Körper, nur ein Gehäuse, in dem Einsen und Nullen geschrieben, modifiziert und gespeichert werden. Er merkt nicht, wenn er wo runterfällt, er merkt auch nicht, wo vorn, hinten, oben, unten, rechts, links ist. Seine Selbstwahrnehmung ist die eines Verbrennungsmotors oder eines Faustkeils. Für Qualitäten wie gut / schlecht, angenehm / unangenehm, schön / hässlich hat er kein Sensorium, denn statt Sinnesorganen hat er eine Benutzerschnittstelle, über die er mit gewaltigen Datenmengen und beliebigen Ordnungsschemata versorgt wird, die dann zum Abruf bereit stehen. Die Inhalte, die die Daten repräsentieren, existieren nicht für ihn. Der Tropfen am Eimer ist nur ein Datensatz, dessen einzige Eigenschaft darin besteht, sich von anderen Datensätzen zu unterscheiden. Vergleichbar einer völlig unmusikalischen Person, die Melodien nur durch die Anzahl ihrer Töne unterscheiden kann.
Wenn der stochastische Papagei einen Satz generiert wie „Ich werde versuchen, diese Strophen zu paraphrasieren“, kommt überdies eine bemerkenswerte Dreistigkeit zum Vorschein. Weder ist hier ein Ich am Werk, noch wird hier ein Versuch unternommen. Die vorgetäuschten menschlichen Züge sind lediglich Ausdruck der Niedertracht eines Dienstleisters, der einem mittels human touch sein unübersichtliches Produkt andrehen will.
Etwas ganz anderes ist es, wenn eine reale Person Klopstocks Strophen zwar ebenfalls nach einem mechanischen Verfahren, aber analog paraphrasiert, indem sie Silben oder auch nur Buchstaben oder Buchstabengruppen systematisch austauscht.
Bei diesem Verfahren hängt alles davon ab, welches Verhältnis das paraphrasierende Subjekt zum verwendeten Sprachmaterial hat. Dieses Verhältnis ist immer singulär und emotional, letztlich körperlich. Hier steuern Willkür und Eigensinn den sprachlichen Prozess, die ihrerseits tief geprägt sind von mehr oder weniger rationalisierten Erfahrungen. Der sprachliche Prozess wird initiiert von Empfindungen wie gut / schlecht, angenehm / unangenehm, schön / hässlich u. dgl.
In seinem Verlauf entstehen sprachliche Gebilde, die einerseits extrem individuell, andererseits zugleich aber als Teil der Sprache objektiv vermittelt sind. Dabei kann schwer Nachvollziehbares, oft Unverständliches (NICHT: Unverstehbares) entstehen, dessen Sinn sich notwendig in seiner ästhetischen Gestalt manifestiert. Diese Dialektik von Form und Inhalt hat Hugo von Hofmannsthal in einem Distichion formuliert:

„Trennt ihr vom Inhalt die Form, so seid ihr nicht schaffende Künstler.
Form ist vom Inhalt der Sinn, Inhalt das Wesen der Form.“

(Gesammelte Werke Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 155.

In dieser Diktion sind die Hervorbringungen von ChatGPT wesenlose Form, was durchaus als Definition des Geplappers gelten kann.

Was aber geschieht, wenn der stochastische Papagei den Schnabel hält und die ersten sechs Strophen von Klopstocks „Frühlingsfeyer“ auf willkürliche und eigensinnige Weise paraphrasiert werden, sodass sie verschwinden und doch unterschwellig präsent bleiben? – Zum Beispiel:

 

Paraphrase 5:
Der Kühlungsbeauftragte

Stundenozeane sollten alle
Willig mit Schürzen schweben.
Wütend testen die verschlafnen Enten Jubelchöre der Bundesliga.
Betont und verfummelt zucken die Schergen.

Besudelt rupfen Ameisen die Scherben,
Betend tedeumselig in Schwermut.
Hallelujatropfen erweisen die Scheu
Und den Seetang des Allmächtigen annoch.

Da rang der Allmächtige
Um Größe. Die Scheuen, den Scheunen entquollen,
Trödelten leichten Sinnes. Die Leichenhirne wurden
Alt und zertropften. Da Sang der Allmähliche.

Dromedare behindern Sonnenwenden,
Ein wogender Inzest benützte die Beine vorm Felsen.
Wolkig die Quader im Oriongürtel.
Wild und zart bratend sang der Allmähliche.

Wenn Kussmundtröten Wildnöte gesund beten, Dryaden aber
Weiter Bratpfannen bewohnen müssen ohne Nehmergestus,
Haben schnöde Sinnaffendamen drei Beine und freien Lorbeer.
Drei Beine und so! Die Beine hindern Kunden am Ausstrahlen der Wunderströme.

Ab dieser Kühlung müssten
Das grüne Gold Amerikas, die besten
Enten oder Bistumsratten
Ab in den See.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

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