Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 21: Poetischer Realismus

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Poetischer Realismus

Die Wörter erlauben uns, Dinge beim Namen zu nennen. Was wir benennen können, steht uns zur Verfügung. Durch die Wörter können wir über die Dinge verfügen.

Parkplatz reserviert für Priester
Fotos: Achim Raven

Z.B. über gepflasterte Flächen vor Ziegelmauern. Worüber wir nicht verfügen, sind die Wörter selbst. Die wenden wir nur an, wir können sie nicht machen. Das wird sofort klar, wenn wir die Ziegelmauer Prlltnknrrz nennen. Das versteht niemand, und wir lassen es lieber. Doch selbst, wenn wir die Wörter korrekt anwenden und uns die Dinge verfügbar machen, zeigt sich manchmal, dass die Wörter nicht gefügig sind und Verwirrung stiften.

Klappe

Zwar benennt das Wort „Klappe“ hier tatsächlich eine Klappe. Aber aus welchem Grund steht es auf der Klappe geschrieben? Auf dem Küchenschrank, der Sechskantschraube oder dem Rotkehlchen steht ja auch nicht „Küchenschrank“, „Sechskantschraube“ oder „Rotkehlchen“. Es reicht völlig, dass wir die Wörter kennen und mit ihnen Ordnung in die unendliche Menge der Dinge bringen. Nicht nur, indem wir die Dinge benennen, sondern sie auch in Beziehung setzen und bewerten. Oft sind allerdings aus Reklamegründen die Namen auf die Dinge geschrieben. Auf jedem VW Golf steht „Golf“, um den Unterschied zu den anderen Autos zu betonen, damit das viele Geld für so ein Fahrzeug nicht aus Versehen in die Kanäle der Konkurrenz fließt. So etwas kann aber nicht der Grund dafür sein, dass auf dieser Klappe „Klappe“ steht. Denn im Klappensektor ist die Konkurrenz eher verhalten, und im vorliegenden Fall handelt es sich eindeutig um ein unverwechselbares Unikat. Vielleicht löst das Rätsel sich, indem ja das Wort „Klappe“ auf einer Klappe steht, die im Vergleich zu dem, was sie verschließt, viel zu groß ist. Da wäre die Aufschrift auf der großen Klappe eventuell die Aufforderung, einfach mal die Klappe zu halten. Allerdings fehlt dazu das Ausrufezeichen … Es bleibt rätselhaft.

Die Wörter benennen eben nicht einfach nur, was der Fall ist, sie schaffen auch Realität. Der Realismus der Sprache ist somit ein doppelter. Sie ist einerseits ein Instrument der Realitätsbewältigung, andererseits macht sie, was sie will. Mit diesem Eigensinn kann sie sogar Fakten schaffen.

Zutritt verboten

Das halboffene Törchen lädt zum Betreten ein. Die Wörter auf dem Schild aber verbieten es. Dieses Verbot ist aber zum Glück kein magischer Zauber wie das Wort, das am Anfang war: „JM anfang war das Wort / Vnd das wort war bey Gott / vnd Gott war das Wort. Das selbige war im anfang bey Gott. Alle ding sind durch dasselbige gemacht / vnd on dasselbige ist nichts gemacht / was gemacht ist.“ [Luther, Euangelion Sanct Johannes, 1545]
Wir können uns den Fakten, die die Wörter schaffen, auch widersetzen und nehmen die Einladung zum Betreten an. Die Wörter haben nicht die Macht wie das Eine Wort vom Anfang. Ohnmächtig müssen sie ihre Missachtung erleben. Diese Vergeblichkeit ahnend, hat jemand das Verbot auf dem Törchen in den aggressiven Warnfarben der Wespe gehalten.

Die Wörter sind letztlich von unserem Wohlwollen abhängig. Deshalb können wir sie ungestraft missbrauchen, indem wir z.B. beliebige Personen als „Terroristen“ bezeichnen. Wir können aber auch aus ihrem doppelten Realismus etwas machen (gr. ποιεῖν, poiein), indem wir ihre Möglichkeiten zur Entfaltung bringen. Gelingt dies, können wir von einem poetischen Realismus sprechen, der über einen naiven Abbildrealismus weit hinausgeht und auslotet, welche Potenziale die literarische Widerspiegelung hat, die ja immer auch eine Reflexion ist.

Als Beispiel können wir Johann Heinrich Voß (1751 – 1826) nehmen, den großen Unruhestifter der Goethezeit.

 

Lied eines Bleydeckers der vom Thurm fält
Erste Pause, als er noch oben war

Juchhey! Juchhey! da steh ich, Leute!
Euch allen überm Kopf,
Vom Magistrat beordert, heute
Zu festen diesen Knopf.
Die Dolen und die Krähen kucken
Mir ehrerbietig zu,
Und hämische Gespenster spucken
Um mich, und rufen Buhhh.
Ruft nur, Ihr sollt mich doch nicht stören;
Ich fest’ hier im Beruf.
Still da! ich will euch Mores lehren,
Ihr mit dem Pferdehuf!
Juchhey, ich leere diese Flasche
Aufs Wohl der ganzen Stadt!
Glück, hoch wie dieser Thurm, erhasche
Sie und den Magistrat!
Juchhey, wie ists mirs so behaglich!
Mir schwindelts recht im Kopf;
Doch in der That ists etwas waglich,
Zu stehn auf diesem Knopf.

 

Zweyte Pause, als er fiel

Potztausend! Potztausend! mich dünkt gar, ich falle!
Es saußt mir in’n Ohren, wahrhaftig ich falle!
Ich armer Bleydecker! was that ich dir Sturm?
Du wirfst ja den armen Bleydecker vom Thurm!
O weh mir! O weh mir! wie bin ich erschrocken!
Was seh ich! Was seh ich! dort hängen die Klocken!
– Noch tiefer! – nun komme der Kobolt und helf –
Noch tiefer! – der Zeiger weißt eben halb Zwölf!
Nun Ziegel! Nun Fenster! Ich bin zu beklagen!
Was werden die Leut’ auf dem Kirchhofe sagen!
Macht Platz! der Bleydecker der kommet mit Graus,
Und geht gesund und wohl zu Haus! –
Murx Seladon

 

[Ausgewählte Werke, Göttingen 1996, S. 100]

 

In seinem Übermut, diesen lukrativen Job ergattert zu haben, greift der Dachdecker zur Flasche, lässt alle hochleben und fürchtet weder Tod noch Teufel. Prompt stürzt er vom Dach. So weit, so wirklichkeitsnah und psychologisch schlüssig, denn der übermütige Handwerker dürfte noch jung sein, wer damals mit Blei arbeitete, wurde nicht alt. Im Sturz aber geschieht, was nur in der Sprache möglich ist. Kurz vor dem Aufschlag – sinnigerweise auf dem Friedhof – stößt er einen Warnruf aus: „Macht Platz! der Bleydecker der kommet mit Graus“, dann aber heißt es lapidar: „Und geht gesund und wohl zu Haus!“ Die Sprache macht das Unmögliche möglich. Das tut sie außerhalb der Poesie auch, da aber allzu oft als Lüge, Verdrängung, Realitätsverleugnung, Ideologie – da kann nicht sein, was nicht sein darf. In der Poesie darf auch sein, was nicht sein kann. Das wird gern als Anlass zum Eskapismus missverstanden, tatsächlich aber ist dieser poetische Realismus sehr genau fixiert auf das, was der Fall ist. Das unterscheidet ihn vom Schlagertext und seinem unpoetischen Banalismus. Voß’ Mittel dazu ist die Komik. Wer vor der Realität flüchten will, muss Sinne und Verstand vor solcher Komik verschließen. Eskapismus ist humorlos – wie alle Ideologie.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Ein Kommentar

  1. Das ist sehr gut erklärt und für unsere montagsgruppe gut tauglich.würde gerne drüber sprechen.viele Grüße carola

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