Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 22: Diesseits des Faktischen – Kultur des Irrtums

Achim Raven veröffentlicht in loser Folge am 13. eines Monats Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens. Im ersten Beitrag geht es um den Vers, der weder Zeile noch Satz ist und in der Ambivalenz seiner Möglichkeiten höchsten Scharfsinn oder aber bodenlose Dumpfheit befördern kann.

 

Diesseits des Faktischen – Kultur des Irrtums

Machen klappt nur, wenn man weiß, wie’s geht. Das weiß jede:r Handwerker:in, jede:r Ingenieur:in, jedes Kind. Ich kann ohne Sach- und Fachkenntnis keinen Mikrochip entwickeln, kein Brötchen backen, kein Gedicht schreiben und keinen Ball werfen. Der Weg zu dieser Kenntnis ist gepflastert mit Irrtümern über das Material, dessen Möglichkeiten und Grenzen, die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und die Beschaffenheit der Welt. Solche Irrtümer entstehen aus Versehen, d.h. unabsichtlich, weil ich nicht richtig hingeschaut habe. Da muss ich immer viel lernen, ob ich will oder nicht.

Lernen füllt kein Vakuum, sondern ersetzt falsche Vorstellungen durch richtige. Das stößt gern auf Widerstand, und der versehentliche Irrtum verhärtet sich zum alternativen Fakt: „Für mich ist die Erde aber trotzdem eine Scheibe.“ – Den Irrtum habe ich ja schließlich persönlich begangen („ich persönlich“ – die Lieblingstautologie des autoritären Charakters!), er gehört zu mir. Der Irrtum ist immer in der Defensive, denn er steht auf wackligen Beinen, weil er weder Mikrochips, noch Brötchen, Gedichte oder Ballwürfe hinkriegt. Doch je wackliger die Beine, desto pampiger trumpft er auf. Dieses Auftrumpfen ist seine Selbstbehauptung. Behauptet werden muss ja, was nicht erwiesen ist. Nicht zufällig hat der pampige Irrtum sogar eine eigene Fraktion im Bundestag, die entweder zetert oder beleidigt in die Welt starrt und immer jemanden zum Anspucken braucht. So weit, so ungut.

Es gibt aber eine wundersame Dialektik, die das alles noch kniffliger macht. Die Rationalität der Sach- und Fachkenntnis ist als Grundlage des Verstehens, Erklärens und zweckmäßigen Handelns überaus nützlich, denn Mikrochips, Brötchen, Gedichte und Ballwürfe machen unser Leben angenehm. Doch seit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wissen wir, dass diese Rationalität ihr Gegenteil in sich trägt, und das ist nicht nur ein philosophisches Problem. Denn es heißt nicht nur, dass die Vernunft den Mythos aufs neu erzeugt, sondern auch, dass die überaus nützliche Naturbeherrschung tödliche Eigendynamiken freisetzen kann. Anscheinend ist die Sicherheit rationaler Entscheidungen so etwas wie das Amen in der Kirche, eine Beschwörung, die einen gefestigten Glauben erfordert, dem selbst der Zweifel noch zur Bestätigung dient.

Wenn aber die rationalen Prozesse in ihr Gegenteil kippen, könnten die wackligen Beine des Irrtums interessant werden. Wäre da nicht der Umstand, dass Vernunft wie verhärteter Irrtum gleichermaßen als Waffen im Machtkampf taugen, und dass der Irrtum als Waffe weitaus erfolgreicher ist als die Vernunft. Denn im Gegensatz zu dieser muss der Irrtum nicht kohärent sein, es ist völlig gleichgültig, ob der Glaube an eine gestohlene Wahl, Chemtrails oder QAnon den Anlass zum Sturm aufs Kapitol gibt. Es könnte auch genauso gut die Angst sein, dass der Deep State ehrbare Menschen über den Rand der Erdscheibe schubsen will. Die wackligen Beine des Irrtums müssten also auf einem Terrain stehen, wo das Versehen sich nicht verhärtet, sondern den Blick weitet, wo es möglich ist, in einer verwitterten Mauer Gesichter zu entdecken, ohne gleich geheime Bedrohungen vermuten zu müssen.

Als ein solches Terrain gilt seit dem 18. Jahrhundert die Kunst. Wohlgemerkt die Kunst, nicht ihre Macher:innen und nicht deren Produkte am Markt. Die Künstler:innen und ihre Werke sind allein schon aus Konkurrenzgründen permanent in Machtkämpfe verwickelt. Man beobachte nur, wie Künstler:innen einander im Blick haben und übereinander reden. Spätestens seit Friedrich Schiller gilt die Kunst als autonom, indem sie allen Zwecken enthoben ist, d.h. als freies Spiel sich artikuliert. Sie unterliegt weder thematischen Zwängen, noch ist sie ästhetischen Normen verpflichtet. Sie gewinnt ihre Gestalt durch die Wechselwirkung von Regelbefolgung und Regelverstoß, indem das künstlerische Subjekt wie das spielende Kind höchst konzentriert und zugleich völlig selbstvergessen mit Themen und ästhetischen Vorgaben umgeht. Dieses Spiel mit dem ziellos schweifenden Blick, dem Versehen, korreliert mit der spontanen Zufälligkeit und Beliebigkeit des Irrtums. Nur dass da die Gesichter in der verwitterten Wand nichts anrichten, sie machen Vergnügen und weiter nichts.

Kunstwerke sind primär tatsächlich das, was ihnen gern vorgeworfen wird: Nutzlose Spielereien.
Doch allein schon der Umstand, dass diese Aussage niemals Befund, sondern immer Vorwurf ist, zeigt ihre Notwendigkeit. Der Glaube, nur das Ernsthafte und Nutzbringende dürfe Bestand haben, bekommt nicht erst etwas Eliminatorisches, wenn er die Eugenik (Vernichtung lebensunwerten Lebens) rechtfertigt. Das Reich der Nützlichkeit als gesellschaftliches Leitprinzip erweist sich bereits bei frühen liberalen Denkern wie Jeremy Bentham (1748 – 1832) als monumentales Gruselkabinett. Die nutzlosen Spielereien der Kunst widersetzen sich den zivilisierten Barbareien der Ernstmacher:innen. So erweist sich ein gern genommener Gratiswitz letztlich als klüger als er gemeint ist: Wenn etwas Kunst ist, darf es nicht weg.

In der Sprachkunst zeigt sich die Notwendigkeit der nutzlosen Spielerei auf spezifische Weise. Nichtgegenständliche Bilder oder akustische Kunst können sich zwar von der Nachahmung emanzipieren, jedoch nur, indem sie die Gegenstände tilgen und Farbe, Klang, Form, Harmonie zum Selbstzweck werden. Die Sprache dagegen kann niemals Selbstzweck werden. Selbst das reine Lautgedicht simuliert noch Semantik und Grammatik und verweist auf den kollektiven Ursprung aller Sätze:

Dånål doq
Lonol båk
Bolok qåq
Ån åloq

(© A.R.)

Man könnte auch sagen, dass es der Sprachkunst als einziger nicht gelingt, die Gegenstände zu tilgen. Dafür kann sie die Nichtwirklichkeit von Einzelheiten ausdrücken. Dies eröffnet erstaunliche Möglichkeiten. Nehmen wir ein Gedicht, das jede:r kennt, z.B. von Joseph von Eichendorff:

 

Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt’.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

(Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 285.)

 

Die mittlere Strophe beschreibt die Wetterlage. Eine wolkenlose, laue Sommernacht mit leichtem Wind, doch das faktisch Objektive ist hier nicht Zweck der Darstellung, sondern Mittel, um es mit dem Subjekt diesseits der objektiven Fakten zu vermitteln. Deshalb nutzen die erste und die dritte Strophe die sprachlichen Möglichkeiten der Nichtwirklichkeit. In der ersten Strophe ist es der Modus des Irrealis (Konjunktiv II, „Es war, als hätt …, müßt’“), in der dritten darüber hinaus die Metapher. Diese schreibt im Unterschied zur Parabel, bei der die Bildebene lediglich eine Variante der Sachebene ist, dem Bildbereich eine eigenständige Wirklichkeit zu, wenn auch nur eine hypothetische, d.h. nur unter eng gefassten Bedingungen gültige. Da hat in der sprachlichen Artikulation die Seele tatsächlich Flügel und erhebt sich, um zum irrealen Zuhause zurückzukehren.

Dieser konjunktivische Modus und die hypothetische Möglichkeitsform geben der Nichtwirklichkeit diesseits des Faktischen, d.h. durch gezieltes Versehen eine Gestalt, ohne die Wirklichkeit zu tilgen. So gesehen ist Poesie nichts anderes als die Kultivierung des Irrtums durch die Möglichkeiten der Sprachkunst, mithin ein Gegenbild zur Macht des Faktischen und zum Terror der alternativen Fakten.

 

© Achim Raven

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt: Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes, Düsseldorf 2022, edition virgines. Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und 10 Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

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