Das knifflige Poesiepuzzle, Folge 31: Spiegelungen

Achim Raven veröffentlicht jeden zweiten Monat am 13. Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens.


»[…] Let’s pretend the glass has got all soft like gauze, so that we can get through. Why, it’s turning into a sort of mist now, I declare! It’ll be easy enough to get through –«

She was up on the chimney-piece while she said this, though she hardly knew how she had got there. And certainly the glass was beginning to melt away, just like a bright silvery mist.

In another moment Alice was through the glass, and had jumped lightly down into the Looking-glass room. […]

Then she began looking about, and noticed that what could be seen from the old room was quite common and uninteresting, but that all the rest was as different as possible. For instance, the pictures on the wall next the fire seemed to be all alive, and the very clock on the chimney-piece (you know you can only see the back of it in the Looking-glass) had got the face of a little old man, and grinned at her.

»They don’t keep this room so tidy as the other,« Alice thought to herself, as she noticed several of the chessmen down in the hearth among the cinders: but in another moment, with a little »Oh!« of surprise, she was down on her hands and knees watching them. The chessmen were walking about, two and two!

So beginnen die Abenteuer in Lewis Carrolls »Through The Looking-Glass And What Alice Found There« (deutsch: »Alice hinter den Spiegeln«). Das Kind malt sich aus, der Spiegel in seinem Zimmer sei das Fenster zu einer Parallelwelt, die genauso ist wie unsere, lediglich seitenverkehrt. Doch the glass was beginning to melt away, just like a bright silvery mist, und sie steigt hinüber und muss feststellen, dass es dort viel lebendiger zugeht als in der realen Welt.

Lewis Carrolls Idee findet sich in verschärfter Form wieder bei dem französischen Philosophen, Filmkünstler und Aktivisten Guy Debord, der unter Anspielung auf sein Hauptwerk »La société du Spectacle« (1967) in einem Brief an Thomas Levin schreibt, dass in der Gesellschaft des Spektakels das authentische Leben getilgt und »auf die andere Seite des Bildschirms verdrängt« sei, indem die Erfahrung der Wirklichkeit von einer Scheinwelt aus Werbung, Klischee und Propaganda vollständig überformt werde. Um derartig wirken zu können, muss die Unterhaltungs- und Kulturindustrie, die Traumfabrik, jedoch an die Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen andocken können. So bleiben die Erfahrungen und Bedürfnisse als Verdrängtes im Spektakel erhalten. Es gaukelt den Menschen zwar vor, dass »glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist« (Johann Strauss, »Die Fledermaus«). Aber immer wieder gibt es Momente, die beiläufig daran erinnern, dass vielleicht doch glücklich werden kann, wer nicht vergisst, was zu ändern wäre. Debord hat für seinen Film »La Societé du spectacle« (1973) Szenen aus Hollywoodfilmen zusammengeschnitten, die solche Momente zeigen, in denen das Spektakel sich selbst aufsprengt.

Diese Momente markieren das Ausbrechen der Kunst aus der geschmäcklerischen Gefälligkeit der Unterhaltungsindustrie: Hinter den Spiegeln / auf der Leinwand / auf dem Bildschirm / auf der Ausstellungsfläche / in der Sprache / in der Musik schimmert unvermutet das verdrängte Andere auf, genau wie in den neu zusammengeschnittenen Szenen bei Guy Debord oder auf der anderen Seite von Alices Spiegel. Aber anders als in Lewis Carrolls Märchen ist dies keine alternative Wirklichkeit, sondern eben nur ein Spiegelbild. Allerdings ein doppeltes: Es reflektiert sowohl die physische Wirklichkeit als auch die hineinprojizierten Wünsche und Emotionen. Beides verschmilzt dabei in einer Gemengelage aus Beunruhigung und Euphorie bei der Betrachtung dieses Spiegelbilds, woraufhin das betrachtende Subjekt nun seinerseits reflektiert, und zwar im doppelten Sinne des Wortes: Es spiegelt sich zurück ins Spiegelbild und erzeugt so ein emotionales Spannungsfeld, und es beginnt analytisch-synthetisch zu denken. Jeder Blick in den Spiegel verändert die Welt und lässt sie doch so, wie sie ist. Dies ist der Ursprung sowohl der Philosophie als auch der Kunst – je nachdem welche Reflexion überwiegt, wobei keine ohne die andere zu haben ist.

Insofern hat Joseph Beuys Recht mit seinem Statement: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Allerdings ist dieser Satz außerhalb des Kulturbetriebs (wo seine Folgen ja eine gewisse Bedrohung für den Markt darstellen könnten) eher banal, denn jedem Menschen passieren ganz beiläufig immer wieder mal diese Abweichungen von der Konformität. Solche Alltagskreativität hat jedoch außer Selbststilisierung, Dekoration oder identitärem Trotz noch nie etwas bewirkt. Interessanter ist da schon Martin Kippenbergers ironische Umkehr des Statements: »Jeder Künstler ist ein Mensch.« Kippenberger setzt damit nicht auf  die regressive, aber identitätsstiftende Fähigkeit irgendwie Sachen zu machen (»Das hab ICH!!! gemacht.«), sondern auf die unhintergehbaren und unverwechselbaren Erfahrungen und Bedürfnisse der Person, die das Nichtidentische, den Eigensinn ausmachen. Er setzt auf die wilden Gärungen des Alltäglichen, Ephemeren, die in jedem Individuum ähnlich, aber niemals gleich verlaufen. Und er setzt vor allem auf die Arbeit daran, deren Ziel die gültige Gestalt des Gemachten ist, die spezifische Qualifikation der Künstler:innen.

Weil der Künstler und die Künstlerin Menschen sind, also in ihrer Körperlichkeit jeweils einzigartig und doch ähnlich, verfügen sie wie jeder Mensch über die Gewissheit der Differenz zwischen sich und den anderen und die Fähigkeit, ihren Augen und Ohren, überhaupt allen Sinnen zu trauen, sowie als Kunstschaffende über ein professionell entwickeltes Repertoire an Gestaltungsmöglichkeiten. Damit klappt’s dann mit der Kunst im Allgemeinen und eben auch mit den Gedichten im Besonderen, um die es in diesem Blog ja geht.

Soweit die Theorie, nun die Probe aufs Exempel: Warmer Frühsommerabend in der Düsseldorfer Altstadt. Ich sehe Personen jeden Alters rumstehen und durcheinanderlaufen, aufgekratzte Jugendliche, Stehtischpersonal, schüchterne Touristen, höre es kichern, maulen, angeben, tuscheln, skandieren, zanken, welterklären, rieche Deo und Frittierfett, wittere im Hintergrund das laugige Rheinwasser und Erbrochenes, schmecke, was in der Luft liegt, fühle Schweiß in mein T-Shirt sickern und die Risse und Brüche im Straßenpflaster unter meinen Sohlen … All diese Eindrücke wirken in meinem Hinterkopf weiter, später sortiere ich sie mit meinen Gestaltungsmöglichkeiten – nicht nur künstlerischen, es kann genauso gut die alphabetische Liste sein. Wenn ich Pech habe, nervt mich das alles, und ich flüchte zu Netflix, um sogleich einzuschlafen. Doch wenn ich Glück habe, stehe ich plötzlich up on the chimney-piece und springe, obwohl das ja gar nicht möglich ist, lightly down into the Looking-glass room und stelle erstaunt fest, wie ich meine flüchtigen Eindrücke in Gestalt eines Gedichts stabilisiert habe:

Längste Theke

ältere Herrschaften Bestefreundinnen Betriebsausflüge
Brauerei zum Schlüssel
Cocktails Diebels Döner
English
erhöhter Blutdruck flatternde Blicke fliegende Herzen
Français
Frankenheim Frischverliebte Frisuren
Füchschen Fußballkucken
Gedrängel Gefeixe Gegriene Gekicher Gelächter Gestupps Geuz Gezappel
Glasbruch
goldene Sneakers
Halberloschene Hastende Hustende
Jack Wolfskin jähe Hormonsausschüttungen
Japanerundjapanerinnen Junggesellinnenenabschiede Kleiner Feigling Kippen
kratzstimmige Stehausschankaficionadas kugelbäuchige Stehausschankaficionados
Kumpelklumpen
Kürzer
Limburgs Münsterlandisch Niederrheinisch
Pheromonwolken Pizzareste
plötzliches Rumgepöbel Pubertierende
Ruhrgebiet Sauerland
Schlendernde Schlüssel Schumacher Torkelnde
Türkçe
Uerige
Vitalbolzen und Vitalbolzinnen
Voll- bzw. Teilzeitprominenz
war n Spaaaß —
Remmi trifft Demmi und Malle für alle!
die Luft brummt vor Wonne Frittenfett und Bier
Bolkerstraße Burgplatz Rheintreppe
und zurück

Dass es bei einem solchen Prozess auch ganz ohne Metapherngedöns und Befindlichkeitsschwurbel geht, kann man bei Arno Holz in seinem »Phantasus« lernen – ihm zum Gedenken die Anordnung der Verse auf einer Spiegelachse.

© Achim Raven, Düsseldorf

 

Achim Raven
Achim Raven (Foto: privat)
Achim Raven, geboren 1952 in Düsseldorf, hat von 1984 bis 2015 unter dem Pseudonym Ferdinand Scholz einige Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht.
Seither veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen, zuletzt Düsseldorf Alphabet: 26 Buchstaben – 26 Notizen zu Düsseldorf (Köln 2024, parasitenpresse) und Der Ernst des Unernstes kommt vom Unernst des Ernstes (Düsseldorf 2022, edition virgines).

Er hat 40 Jahre an Gymnasien Deutsch, Philosophie und Kunst unterrichtet und zehn Jahre literarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.




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