Achim Raven veröffentlicht jeden zweiten Monat am 13. Überlegungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Gedichteschreibens.
Üb immer Treu und Redlichkeit,
Bis an dein kühles Grab;
Und weiche keinen Fingerbreit
Von Gottes Wegen ab
Diese Verse hat wohl jeder schonmal gehört, zumindest die ersten beiden. Doch kaum jemand weiß, dass sie von Ludwig Hölty (1748 – 1776) stammen. Der volkstümelnd moralisierende Ton ist inzwischen unerträglich, und so wundert es nicht, dass der Dichter außerhalb der Germanistik kaum noch Beachtung findet.
Hölty gehört dem 1772 gegründeten Göttinger Hainbund an, einer Gruppe dichtender Studenten, die den Göttinger Musenalmanach zu einem Zentralorgan des Sturm und Drang machen. Man verehrt Klopstock, pflegt ein schwärmerisches Gefühlsleben, gibt sich vaterländisch. 1775 löst der Bund sich auf. Der Tanz der Hormone ist gemächlicher geworden, man hat Examen gemacht und verlässt Göttingen in Richtung Ernst des Lebens. So weit, so unwichtig.
Doch manchmal halten die Gewissheiten des ersten Blicks dem zweiten nicht stand. Was, wenn wir Hölty nicht als studentischen Brausekopf oder staubiges Objekt frömmelnder Begehrlichkeiten betrachten, sondern als Mitglied des legendären Klub 27? Schließlich ist er gut drei Monate vor seinem 28. Geburtstag gestorben. Der Einwand, dass in diesem Klub nur glamouröse Gestalten wie Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain oder Amy Winehouse zugelassen sind, wird erstens dadurch entkräftet, dass ihm auch schon Georg Trakl zugerechnet wurde, und zweitens dadurch, dass der Sturm und Drang wohl auch die erste der umfassenden jugendlichen Dissidenzkulturen ist. Um großen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, werden statt Schlagzeug und übersteuerter Gitarrenriffs antike Versmaße und emphatische Neologismen eingesetzt. Städte wie New Orleans, Liverpool oder San Francisco heißen im 18. Jahrhundert u. a. Göttingen. Wer über dieses Göttingen Näheres wissen möchte, lese Während der Sündflut, das zweite Buch in Heinrich Albert Oppermanns Roman Hundert Jahre. Über die Person Hölty schreibt die »Muse« des Göttinger Hains, Charlotte von Einem:
Vor allem mein edler frommer kindlichtreuer Hölty, der in dem aller häßlichsten Körper die schönste Engelseele – ach leider unter schweeren Druck, nur auf kurze Zeit bewahrte. Ja – ich mögte sagen – vast mußte mann die Augen zu schlüßen wenn mann so mit Liebe sich ihn nähern oder ihm nahe haben mögte: so w i e d r i g war sein Äusres.
(nach: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ludwig_H%C3%B6lty)
Mit so einem widrigen Äußeren hat ein Mensch drei Möglichkeiten: Er übt sich in Demut bis zur Unterwürfigkeit, er wird zum beißenden und reißenden Biest, oder er schärft seinen Geist. Hölty möchte geliebt und bewundert werden. Er wird Dichter. Aber nicht unbedingt einer von den Dienstleistern, die dem Publikum auf Maß gefertigt Bestelltes liefert, sondern ein Melancholiker, der weiß, dass er mit seinen Wünschen zwar nicht allein, aber umso einsamer ist.
Doch genug Küchenpsychologie. Relevanter: Was schreibt Hölty außer blassen Versen nach Art des evangelischen Gesangbuchs? – Zum Beispiel so etwas:
Der Bach
Wie Blandusiens Quell rausche der Afterwelt
Deine Lispel, o Bach, tanze der Enkelin
Silberblinkend vorüber,
Grünt, ihr Erlen des Ufers, ihr!
Dieses Rieselgeräusch, welches dem Quell enttönt,
Dieses Zittern des Laubs flüstert mein Herz in Ruh,
Gießt ein lindes Erbeben
Durch die Saiten der Seele mir.
Lieblich wirbelst du hier, Zauberin Nachtigall!
Deinem Abendgesang lauschet dein Freund hier oft,
Und dem Wellengeplätscher,
Und dem Säuseln des Uferschilfs.
Dann durchhüpf ich, als Kind, wieder die Frühlingsflur,
Trage Blumen im Hut, tummle mein Steckenroß
Oder schaffe mir Welten
Und bin König und Herr darin.
Ein balsamischer Hain säuselt um mich empor,
Eine Hütte darin winket dem Schaffenden,
Und ein freundliches Mädchen
Hüpft im Garten und lächelt mir.
Von des fliehenden Tags Golde beflimmert, rauscht
Sie durchs Rosengebüsch, gibt mir den ersten Kuß,
Fleucht, und lächelt, und birgt sich
Wieder hinter den Blütenbusch.
Weil, ich fliege dir nach! Warum entflohest du?
Plötzlich lispelt der Strauch, Himmel! sie schlüpft hervor,
Und es schüttelt der Strauch ihr
Einen Regen von Blüten nach.
Wie Blandusiens Quell, rausche der Afterwelt
Deine Lispel, o Bach, tanze der Enkelin
Silberblinkend vorüber,
Grünt, ihr Erlen des Ufers, ihr!
(nach: Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Werke und Briefe, Berlin und Weimar 1966, S. 140)
Als Adept Klopstocks trifft er nicht nur den aufgewühlt-sentimentalen Sound der Zeit, sonder wie ein Popmusiker verwendet er auch versteckte Codierungen, um seine Credibility bei den Fans zu sichern: In der vierten Strophe versetzt er etwa Goethes Superhit Prometheus, im Jahr zuvor erschienen, in einem anakreontischen Kontext. Und in der ersten Strophe spielt er doppelt auf Horaz an, indem er dessen Fons Blandusiae zitiert (Carmina 3,13) und überdies das Versmaß übernimmt. Die für die deutsche Sprache adaptierte dritte asklepiadeische Strophe (hier wiedergegeben in der Übersetzung von Herder) hebt an wie folgt:
O Blandusiens Quell, silbern und spiegelhell,
Werth mit Weine vermählt, Blumen gekränzt zu seyn,
[…]
Weit entfernt vom jambischen Klappern ist das fließende Odenmaß in den beiden ersten Versen jeweils kurz aufgestaut durch das Aufeinandertreffen zweier betonter Silben, wofür es die schöne Bezeichnung Hebungsprall gibt. (By the way: Hebungsprall wäre auch mal ein nettes Wiewort:
Hebungsprall knallen daktylische Verse brutal
Arglosen Hörern aufs offene Ohr …)
Hölty jedenfalls lässt mit diesem rhythmischen Kniff das Bild eines steinigen Bachs entstehen, der durch eine Aue fließt, ausgemalt mit beinah barocken Klangfarben. Eingebettet in die kunstvolle Konstruktion aus asklepiadeischer Strophe und reichem Klang: das große Gefühl. Dass die Natur als Spiegel des Gefühls dient, ist allerdings schon im 18. Jahrhundert ein Klischee. Es kann also nicht darum gehen, dass hier jemand sein Gefühl in die Natur projiziert. Spannend ist hier zunächst einmal etwas ganz Anderes: die sprachliche Emphase.
Die Afterwelt (Nachwelt) und die Lispel (das Flüstern) sind dabei lediglich außer Gebrauch geraten und fallen vor allem dem heutigen Leser besonders auf, aber Grünt, ihr Erlen des Ufers, ihr! ist schon per se bemerkenswert, denn die Verdopplung des Anredepronomens kommt eigentlich nur gegenüber Personen vor als Ausdruck von Zärtlichkeit (»du Liebe:r, du«) oder von Abscheu (»du Mistkerl/-stück, du«). Das ist mehr als sentimentale Projektion, das geht ins Schamanische. Was sich auch hierin zeigt: Die Seele des Empfindsamen wird als Resonanzkörper gesehen, über den Saiten gespannt sind, die von den leisesten Regungen der Außenwelt zum Schwingen gebracht werden, eine Art Äolsharfe. Hier bekommt die Inspiration ihre wörtliche Bedeutung. Dieses Zittern des Laubs flüstert mein Herz in Ruh, Gießt ein lindes Erbeben Durch die Saiten der Seele mir. Der sentimental Schwärmende wird so auch zum Dichter (dessen Symbol die Äolsharfe ist) und zum Freund der Nachtigall, die nicht nur in der Liebeslyrik des Orients eine bedeutende Rolle spielt.
Dieser Dichter lauschet […] dem Wellengeplätscher, Und dem Säuseln des Uferschilfs. Diese Wörter beschreiben eigentlich nur, ihr onomatopoetischer Sound aber macht sie zum fließenden Gewässer. So stellt sich heraus, dass die Zauberin Nachtigall hier nicht eine (flaue) Metapher ist, denn der Dichterschamane, der zärtlich mit den Bäumen spricht, wird tatsächlich verwandelt, macht eine Zeitreise in die Kinderzeit, in der die Weltherrschaft ein ebenso harmloses Vergnügen ist wie Blumenpflücken und mit dem Steckenpferd über die Wiese zu tollen.
Das dominierende Motiv ist hier die sinnloseste, selbstvergessenste und lustvollste aller Fortbewegungsarten: das Hüpfen. Goethe übrigens lässt im Faust den Euphorion auf diese Weise die Schwerkraft überwinden:
Nun laßt mich hüpfen,
Nun laßt mich springen!
Zu allen Lüften
Hinaufzudringen,
Ist mir Begierde,
Sie faßt mich schon.
(nach: Johann Wolfgang Goethe, Faust, Der Tragödie Zweiter Teil, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz, Hamburg, 1948 ff., Bd. 3, V 9711 – 9716)
Goethe verwendet das Motiv für eine Allegorie der künstlerischen Freiheit und lässt den Hüpfenden tragisch als Ikarus enden. Bei Hölty hingegen durchhüpf(t) der Junge die Frühlingsflur, und auch ein freundliches Mädchen hüpft im Garten – wie auf Sprungfedern geraten die beiden zueinander, und eins der Hauptthemen des Pop wird als bukolische Szene durchgespielt: Young Love. Im 18. Jahrhundert führen zu diesem Thema Geßners Idyllen lange Zeit die Hitparade an:
Damon: Izt hab ich sechszehn Frühlinge gesehn, doch liebste Phillis! keiner, noch keiner war so schön wie der; weisst du warum? ‒ ‒ Ich hütʼ izt neben dir die Herde.
Phillis: Und ich, ich hab izt dreizehn Frühlinge gesehn. Ach liebster Damon! keiner, nein keiner war für mich so schön wie der; weisst du warum? ‒ ‒ Izt drükte sie ihn seufzend an die Brust.
(nach: Salomon Geßner, An den Amor, Idyllen, Leipzig 1980, S. 31)
Doch wie hölzern wirkt die Young-Love-Standardsituation Geßners im Vergleich zu Hölty:
Von des fliehenden Tags Golde beflimmert, rauscht
Sie durchs Rosengebüsch, gibt mir den ersten Kuß,
Fleucht, und lächelt, und birgt sich
Wieder hinter den Blütenbusch.
Weil, ich fliege dir nach! Warum entflohest du?
Plötzlich lispelt der Strauch, Himmel! sie schlüpft hervor,
Und es schüttelt der Strauch ihr
Einen Regen von Blüten nach.
Hier vibriert der Rhythmus des Asclepiadeus im Rausch der Klangfarben, im Schlüpfen klingt noch das Hüpfen nach, und die magische Natur scheint mit dem lispelnden Strauch endlich der schwärmerischen Ansprache an die Erlen des Ufers zu antworten. Doch es ist nur ein zärtliches Verwirrspiel. Young Love eben. Always different, always the same hat John Peel über Mark E. Smith gesagt und damit ein Grundgesetz jugendlicher Dissidenzkultur formuliert, die nur dann stark sein kann, wenn zwischen Bühne und Publikum nicht nur beidseitige Zufriedenheit wegen prompter Lieferung herrscht, sondern die endlosen Varianten gemeinsame Euphorie erwartungsfroher Aufgewühltheit bestimmen.
© Achim Raven, Düsseldorf
