Dichterbriefe – Folge 14: Golden Goal und die lange Buße der europäischen Dichtung – Christophe Fricker schreibt Ian Watson

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Ian,

Du wirst Dich wahrscheinlich nicht geschmeichelt fühlen, wenn ich Dir erzähle, welches Bild mir zuerst einfällt, wenn ich an Dich denke. Eigentlich ist es kein Bild, sondern eine kleine Melodie. Du singst sie bei Lesungen manchmal, denn das Lied, aus dem sie stammt, wird in Deinem Gedicht über das Pokalfinale 2010 – eine krachende Werder-Niederlage – angestimmt. Die trotzigen Bremer Fans stolpern angetrunken durch den Prenzlauer Berg und singen eben jenes Liedchen, das mit den von Dir so unnachahmlich sanft intonierten Worten endet: »Scheiße scheiße HSV …«

Der Fußball ist für Dich nicht nur ein musikalisches, alkoholisches oder hausgemeinschaftliches Thema, sondern auch ein dichterisches und politisches. Klammer auf: Fußball, Politik und Dichtung unter einen (grünen) Hut zu bekommen ist schon an sich eine solche Leistung, dass ich denselben davor ziehe. Klammer zu. Über diese thematische Dreifaltigkeit hast Du gerade ein Buch geschrieben, um das es mir hier aber gar nicht geht. Gleichzeitig ist nämlich auch Granny’s Interpreter erschienen, mit Gedichten aus Deinen drei Heimatländern Nordirland, Bremen und Stadion.

Da ich Bremen, auch dank Deiner Hilfe, ein bisschen kennen lernen durfte, sprechen die Zeilen über den Buß- und Bettag, den Tag des Büßens und des Betens, der inzwischen ja nur noch in Sachsen ein Feiertag ist, ausgerechnet in Sachsen, mich klatschnass an:

Huddled boys at bus-stops in the fog
cough fog in clouds. In clouds
the sky has fallen under a weight of sins
we have to purge. We urge
the penance that we have to pay –
repent and pray.

Diese ostentativ übersteigerte Zerknirschtheit kenne ich vor allem von W.G. Sebald, den ich aufgrund dieser Eigenschaft auch für einen humorvollen Autor halte, allerdings gebe ich zu, dass das eine gewagte These ist. Bei Dir hingegen kommt man vor lauter Augenzwinkern gar nicht mehr zum Lesen, zumal auch die klangmalerischen Qualitäten selbst dieser aus dem Zusammenhang gerissenen Strophe so hartnäckig sind, dass man sich gleich duschen will.

Wer mit Nordirland aufgewachsen ist, dem letzten (oder sollten wir sagen: zeitweilig einzigen) christlichen Religionskrieg in Europa, hat auch zu den Zehn Geboten ein eigenes Verhältnis. Du fügst noch zehn hinzu, von denen einige sicher auch in anderen Teilen des sogenannten vereinigten Königreichs artig befolgt werden, zum Beispiel das erste: »Thou shalt keep a low profile.« Das zweite: »Thou shalt not cause a fuss.« Das achte: »Thou shalt not always say what thou thinkest.« Oder das neunte: »Thou shalt only occasionally say what thou feelest.« Allerdings hätte ich mir im Laufe dieses grauenhaft brexistischen Jahres gewünscht, dass der eine oder andere diese Gebote noch inniger beherzigt hätte.

Aber eigentlich wollte ich ja vom Fußball sprechen, der auch in Granny’s Interpreter eine Rolle spielt (Welche? Wahrscheinlich linkes Mittelfeld. Oder falsche Neun oder so was. Was denkst Du?). Da gibt es nämlich das wunderbare Juli-Gedicht aus dem Zyklus »A Year With Bremen«, mit seinem an Auden anklingenden Titel »The First of July (Euro ʼ96)«. Du erzählst in dreizehn kurzen Zeilen von Deinem schottischen Großvater, der im deutschen Trommelfeuer des Ersten Weltkriegs starb, und von Deinem deutschen Sohn, der die vier Bremer Nationalspieler, die gerade die Europameisterschaft gewonnen hatten, am Flughafen mit einer Fahne begrüßt, einer demokratischen Bundesfahne nämlich, »that none of his German great- / grandfather’s comrades would have / recognised as their own.«

Die EM fand in England statt, Schottland schied in der Vorrunde aus, Deutschland triumphierte per Golden Goal gegen Tschechien. Mein erstes Autocorso. Wir hatten das Spiel bei meinem Schulfreund Harry zu Hause geguckt, und er verpasste beide Tore. Den Sommer drauf machten wir zusammen Abi. Vor ein paar Jahren ist er gestorben, auf eine nicht nur für Friedenszeiten grauenhafte Art.

Aber davon kann hier nicht die Rede sein. Ich würde Dich gern fragen, wie Du das machst, mit leichter Hand, ohne banal zu werden oder respektlos oder fahrlässig, sondern so ganz ehrlich über die großen Themen wie Krieg und Tod und Familie und die EM ʼ96 zu schreiben (Hab ich schon erwähnt, dass Deutschland da per Golden Goal gegen Tschechien triumphierte und Weltmeister wurde? Ich hör die Tschechen heut noch in einer hinterletzten Prager Kneipe singen: Scheiße scheiße HSV …)? Also, wie machst Du das? Kann man das lernen?

Sei novemberlich, doch auch heiter gegrüßt von
Christophe
 

Ian Watson  Granny's InterpreterIan Watson
Granny’s Interpreter

Salmon Poetry, Knockeven 2016
Softcover, 90 S.
€ 11,99 (D)

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Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

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