Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.
Lieber Paulus,
seit zwei Jahrzehnten lese ich Deine gigantischen Gedichte, und sie erinnern mich an dreierlei: Bagger, Haile Selassie, Beatrice. Oder, um es mit Deinen eigenen Worten zu sagen, sie erinnern mich an das innerweltliche »Gott / was für ein Scheiß …«
Aber der Reihe nach. Du machst es einem nicht leicht, Du schreibst schon auf den ersten, blätternden Blick anders als jeder andere Dichter, sogar anders als Pound, denn bei Dir gibt es keine chinesischen Schriftzeichen, keine faschistischen Flugträume, aber es gibt auch bei Dir beinahe unendlich viele, unendlich verschiedene Wörter, von Gott bis Scheiße, es gibt die Mittelachse, an der alles ausgerichtet ist und die nicht einmal im Ansatz den Gedanken an den ruhigen Neuansatz von Gedanken aufkommen lässt, die aber auch alles andere als ein roter Faden ist, höchstens vielleicht eine ordentlich ausgelegte Blutspur, die der Leser nie aus den Augen verlieren darf. Das alte Wort »Denk nicht zuviel von dem was keiner weiss« lässt Du Dir jedenfalls nicht sagen – Du denkst ganz offensichtlich, dass keiner wirklich was weiß und dass man deshalb so viel denkend dichten sollte, wie es nur irgendwie geht.
Und wie geht es diesem Leser dabei? Da kommen jetzt der Bagger, Haile Selassie und Beatrice ins Spiel.
Mein kleiner Neffe Arthur, 4, macht nichts lieber, als sich auf dem großen Bildschirm YouTube-Videos der größten Baumaschinen der Welt anzuschauen, die sich auf völlig unwirklich anmutenden Baustellen in die Erde graben, durch Geröll und Schutt, die Felsen knacken und dabei manchmal selbst ins Rollen geraten (ein Beispiel hier). Ein verzücktes »Oh don don!!«, ein seliges Lächeln und schließlich ein rastloses Rennen durch die Wohnung sind das Ergebnis dieser regelmäßigen Übungen im Staunen.
Nächste Szene: Zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt flattern über einem verfallenden, aber bunten Gebäude zwei Fahnen – die walisische, weiß und grün mit dem roten Drachen, und die des alten Kaiserreichs Äthiopien, grün, gelb und rot mit dem Löwen Judas. Haile Selassie, der letzte äthiopische Kaiser, ließ in der Verfassung seines Landes festhalten, dass er und seine Nachkommen von der Königin von Saba abstammen. Er hielt sich für den 225. direkten Nachfolger König Salomos, und die Rastafarians hielten ihn für den Messias. Die Eritreer, die er in Grund und Boden bombte, nicht. Martin Meredith hält das in seinem Buch The state of Africa fest, auch Michela Wrong in ihrem wirklich schockierend faktischen I didn’t do it for you. Ich lese diese Bücher und denke regelmäßig, jetzt kann es nicht mehr schlimmer kommen, dann blättere ich um, und dann sterben in einem Nebensatz wieder zweihunderttausend Menschen.
Und Beatrice? Laura? Maximin? Die fernen Geliebten? Die uns die Hoffnung geben, dass die Welt sich um das Schöne dreht? Die sich einmal zeigen und die dann unter unseren schreibenden Händen zu Zeichen werden, denen unsere Verzweiflung nur innerlich eingeschrieben ist. Die auch uns einmal gesehen haben, als taxonomisches Faktum, als neuerlichen Beweis für die Verschrobenheit des Alltags. Auch von ihnen kann ich den Blick nicht abwenden.
Und genau so schaue ich, lieber Paulus, auf deine maßlos konkreten, nie nützlichen Gedichte: wie Arthur auf den Bagger, körperlich ergriffen und voller Unverstand, ich schaue auf sie, wie ich vom Krieg am Horn von Afrika lese und wie ich an der Unerfüllbarkeit der Liebe leide, und in einem vermessenen Augenblick denke ich dann, dass ich von Bagger, Völkermord und mystischer Einung auch sprechen darf, obwohl ich sie nur vermittelt kennengelernt habe. So wie deine Gedichte.
Der Witz an der Sache ist natürlich, dass großes Gerät, äthiopischer Kaiser und Dantes Dame – ebenso wie Gott und Scheiße in der schon zitierten Formulierung – in deinen Gedichten auch vorkommen, zumal im aktuellen Band Wer ich bin, man muss nur weiterlesen, dann tauchen sie auf. Du kannst von ihnen sprechen.
Entsprechend beflügelt werde ich weiter Paulus lesen.
Sei herzlich gegrüßt von
Christophe
Paulus Böhmer
Wer ich bin
Gedichte
Mit einem Nachwort von Ria Endres
Edition Faust, Frankfurt a. M. 2014
Hardcover, 56 S.
€ 16,00 (D)
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Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.