Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.
Lieber Klaus,
schreib ein Gedicht über das Meer, schreib ein Gedicht über die Sonne, schreib ein Gedicht über die Sterne – das klingt wie Aufgaben aus dem Schreibseminar. Einfache Themen, mit denen jeder etwas anfangen kann. Denn jeder hat das Meer, die Sonne, die Sterne schon einmal gesehen, jeder hat schon einmal über sie nachgedacht, und jeder, der in einem Schreibseminar sitzt, hat auch schon einmal versucht, ein Gedicht über sie zu schreiben. Es gibt so viele Gedichte über das Meer, wie es Wellen gibt. Die lyrische Sonne und die lyrischen Sterne scheinen nur noch im Land der Seminare. Denn so leicht es ist, ein Gedicht über sie zu schreiben, so unmöglich ist es, ein gutes Gedicht über sie zu schreiben.
Und das war sicher schon immer so.
Aber es wäre doch wirklich schrecklich, wenn wir uns entmutigen ließen. Es wäre wirklich schrecklich, wenn sich die Autoren herausragend guter Gedichte über das Meer, die Sonne und die Sterne hätten entmutigen lassen. Sonst besäßen wir ihre Gedichte nicht.
Ein so herausragend gutes ist »Salzwasser« von Rolf Jacobsen, aus seinem Debütband Jord og Jern (1933), das auch Deiner Auswahl aus dem umfangreichen Werk des norwegischen Dichters vorangestellt ist. Die drei Teile des Gedichts zeigen uns das Meer als lebendiges Wesen unter der Sonne und den Sternen, den Fjord als unruhigen Grenzgänger zwischen Meer und Land und schließlich eine kleine Schäre, von der aus Glockenklang über Buchten und Landzungen klingt.
Die Anfangszeilen des Gedichts haben mich sofort in ihren Bann geschlagen, und meine Spannung hat im Laufe der insgesamt 68 Verse nicht nachgelassen. Das Gedicht beginnt:
Das Meer baut sich große Häuser und reißt sie wieder ein.
Das Herz, das keine Ruhe findet, muß ewig suchen,
mit gewaltigen Händen wühlen in Wolken und Abgründen.
Kannst du die tiefe Stimme da draußen singen hören und rufen?
Das ist nicht das Meer, in das wir haufenweise Plastik kippen und über das wir Frachtschiffe und Flugzeugträger jagen. Es ist das Meer, das wir in der Machtlosigkeit unserer Liebe zu ihm fürchten und dessen Gezeitenzorn die Menschen selbst in dem inzwischen nach ihnen benannten Erdzeitalter nicht bändigen können. Wir erkennen es wieder, es baut Häuser wie wir, und wir sehen die schlimmen Seiten unserer selbst in ihm zur vollen Entfaltung gekommen, denn es reißt diese Häuser gleich wieder ein. In der zweiten und dritten Zeile ist vom Herzen die Rede, und es bleibt offen, ob unseres oder das des Ozeans gemeint ist.
Richtig ungemütlich wird es mit dem Beginn der zweiten Strophe. Wir werden angesprochen, auf unsere Fähigkeit hin geprüft, jenes wütende Wasserwesen, das Herz und Hände und auch Stimme hat, gefügig zu machen, so zu rufen, dass es kommt. Ungemütlich ist nicht das Nein, das wir kleinlaut zur Antwort geben müssen, ungemütlich ist vielmehr die Wesenlosigkeit dessen, der uns diese Frage stellt. Wer fragt so? Wer verlangt im Angesicht solcher Machtverhältnisse noch Rechenschaft? Eine solche Stimme, diese dichterische Stimme hat ganz offensichtlich Mut.
Sie ist uns offenbar auch nicht wohlgesonnen, denn gleich in der nächsten Zeile fragt sie uns, ob wir »still weinen, heftig atmen in der Nacht?« Und dann wendet sie sich wieder dem Meer zu, das
Sucht und kann nicht vorankommen,
drängt gegen alle Länder der Erde
und weicht seufzend zurück.
Unsere Lage im Gedicht scheint so gefährdet wie unsere Lage in der Welt.
Statt den weiteren Gang dieses ungeheuren Meeresgedichts zu verfolgen, möchte ich Dir eine Frage stellen. Du widmest Dich seit langem der skandinavischen Lyrik und hast inzwischen eine beeindruckende Zahl schwedischer und norwegischer Gedichte übersetzt, von der Prosa natürlich ganz zu schweigen. (Dass ich da ein Lieblingsbuch habe, will ich nicht verschweigen.) Mit dem Werk von Rolf Jacobsen hast Du Dich intensiv auseinandergesetzt, und immer wieder ist dort vom Meer die Rede. Mich interessiert, inwiefern Deine Übersetzung dieser Gedichte von Deinen eigenen Erfahrungen mit dem Meer geprägt ist. Deine rhythmischen und klanglich sehr dichten deutschen Fassungen vermitteln den Eindruck, dass Du genau weißt, wovon der Autor spricht. Insofern fühle ich mich als Leser in guten Händen. Aber ich bin doch neugierig: An welchen Stellen hat Dir eine eigene Erfahrung des Meeres eine bestimmte Wortwahl nahegelegt? Der zweite Teil des Gedichts spricht von einem Fjord, und es klingt so, als wäre dieser Fjord dadurch entstanden, dass Wasser landeinwärts drängt, was naturwissenschaftlich gesprochen unrichtig ist. Erfahrungen und Bilder geben im Gedicht den Ton an, nicht die Fakten der Geologie. Haben Erfahrungen Deine Übersetzung beeinflusst?
Bitte entschuldige, wenn diese Fragen vielleicht etwas naiv sind. Aber ich habe gerade selbst ein Buch über das Meer übersetzt und musste mich daher auch ausführlich mit dem Thema beschäftigen. Und überhaupt geht es ja derzeit oft um die Frage, woher wir eigentlich wissen können, ob sich jemand auskennt mit dem, wovon er spricht. Jacobsens Meer kommt mir in Deiner Übersetzung plausibel vor. Hast Du als übersetzender Dichter eine Ahnung, wie das gelingen konnte?
Auf eine Antwort freut sich, herzlich grüßend,
Christophe
Rolf Jacobsen
Nachtoffen
Gedichte
Übersetzt von Klaus Anders
Edition Rugerup, 2017
Paperback, 150 Seiten
Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.