Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.
Jungs,
letzte Woche standen wir auf dem Münchner Marienplatz. Ein paar Schreiber aus dem Dunstkreis von DAS GEDICHT haben Gedichte gelesen, teils mit sehr viel Verve. Dichter, Lyriker, Poeten, poets und Autoren. Standen da aus Freude am Gedicht, aus Freude auch an München und aus Freude an den Menschen, ihren Rechten und der Freiheit. Dutzende sind stehen geblieben, vielen hörten länger zu. Ihr zwei wart augenscheinlich überrascht von dem Spektakel, aber auch beeindruckt. Der eine von Euch war schon der Experte. Und der andere fragte nach:
»Wos isn dös?«
»Dös is Poetry slam. Dös is a neie Kunstform.«
»So, un wos is dös?«
»Dös is wie a Rap, nur ohne Musi.«
Ich schaute wieder rüber zu den Autoren am Mikro, schaute zu den Leuten, die stehen blieben, schaute zu den Autoren am Mikro und dachte nur noch:
Rap ohne Musi,
Rap ohne Musi,
genau so ist es,
und Rap ohne Musi und Poetry ist Rap ohne Musi und Poetry ist Sonne ohne Brille, Liebe ohne Leiden, Leiden ohne Liebe, Rap ohne Musi.
Poetry ist Schweigen ohne sprachlos, Bundesliga ohne Unentschieden, Klimawandel ohne Artensterben, Hefeweizen ohne alkoholfrei, aber eigentlich vor allem Rap ohne Musi.
Poetry ist wie Nutella ohne Palmöl, S-Bahn-Fahren ohne Fahrausweis, und ist – passt auf! – wie menschliches Antlitz ohne Sozialismus und wie Star Trek ohne Leute, die dabei an Star Wars denken.
Rap ohne Musi.
Poetry ist wie Pomeji vor dem Vesuv, ist wie die Sintflut nach uns, ist wie Innenstadtverkehr ohne Ampeln, Poetry ist Rap ohne Musi.
Poetry ist Fake ohne News, ist Blake ohne Blues, und irgendwie gehören immer zwei dazu, es gibt kein Leben ohne Dus, keinen Ball ohne Fuß, keine Löwen ohne Gnus und keinen Schiffsverkehr mehr ohne Grönemeyer.
Rap ohne Musi.
Keinen Chor ohne Stille, keine Welt ohne Wille und – jetzt kommt’s, Jungs! – keine Poetry ohne Musi, denn die Musi ist schon da, wo ihr sagt: Wos is dös? Dös is Rap ohne Musi.
Rap ohne Musi.
Danke, Jungs, bis bald!
Christophe
Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.