Dichterbriefe – Folge 28: Liebe Vielflieger – Christophe Fricker schreibt Nancy Hünger

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Liebe Nancy,

habe Dich telefonisch nicht erreicht, daher nun brieflich.

Mein Neujahrsvorsatz (alles Gute Dir zum neuen Jahr, und auch Ihnen, die Sie mir über die Schulter schauen, während ich mit der wunderbaren, bedeutsamen, behutsamen Dichterin Nancy Hünger spreche!) – mein Neujahrsvorsatz lautet: Weniger fliegen.

Wegen der verhungernden Eisbären, wegen meiner immer trockeneren und faltigeren Haut und wegen Deines Gedichts »Herzlich willkommen!« Es führt uns die Trostlosigkeit und Unwirtlichkeit, die bodenlos rücksichtslose Wirklichkeit jener seelenlosen Körperkabine über den Wolken vor Augen. Aus Deiner Sicht, der Sicht des Passagiers, der auf die Vorführung der Sicherheitsvorkehrungen blickt und dabei ein Vaterunser betet und zugleich an die italienische Schriftstellerin Elsa Morante denkt. Das alles wird zu einem berückend und bedrückend klaren Sprachbild. Verzeih, dass ich zwei Strophen zitiere, die Du kennst:

Für das Finale zieht sie eine Maske über
und spricht die Litanei der Überflieger.
Wir sprechen nach: erst ich und dann die Kinder.

Vergib uns die Schwimmweste, unser täglich Brot
in Cellophan, vergib uns die Leuchten am Boden
zeigen ganz schlicht den Weg aus der Not.

Sag ehrlich, wer möchte da noch fliegen. Sag aber auch, welche Beförderungsmethode eigentlich noch besser ist? Von der Fähre rätst Du ebenfalls ab. Charon, der die Toten ins Totenreich befördert, erregt Dein Mitleid:

[…] Er hat unsere Demut verdient.
Stell Dir vor, es ist Nacht und du fährst
Deine Freunde einsargen, stell Dir vor,

die rissigen Hände und das ewige Wasser.
Immer rüber und nüber. Diese Arbeit
ist schlimmer als unsere und wird

noch schlechter entlohnt.

Von tarifvertraglicher Sicherheit ist die Welt der Mythen in der Tat ziemlich weit entfernt. Auch wenn die tarifvertragliche Sicherheit inzwischen selbst zum Mythos geworden sein mag. Gibt es in Deinem Buch auch ein Gedicht, das vor der Zugfahrt warnt? Dann blieben mir zwischen Deutschland und England tatsächlich nicht mehr viele Möglichkeiten.

Ja, tatsächlich: Auch »das Warten auf Züge / im Winter« erscheint bei Dir nicht sehr angenehm.

Ist es aber auch nicht.

Und so beginne ich zu denken, dass Deine Warnungen berechtigt sind und wir uns tatsächlich durch eine traurige Welt begeben. Eine Welt, die uns traurig werden lässt. In meinem Leben steht dieses Jahr ein runder Geburtstag an, vielleicht markiert er auf seine unbeholfen mathematische Art die Hälfte des Lebens, von der Du hellsichtig dunkel schreibst: »Es gibt also eine erste und eine zweite Hälfte, die zweite setzt oft zögerlich, unmerklich ein und ziert einen dezenten Trauerflor um unsere Augen, die zweite beginnt und endet mit dem Tod, erst wird wenig, dann immer mehr und letztlich ausdauernd und viel gestorben.«

Ja, um mich herum wurde viel gestorben, auch 2016, es war ein düsteres Jahr. In München haben wir zwei beide uns gesehen, bei Pizza und Mineralwasser, bei Lyrik und Leitner, das war ein Lichtblick. Um Lyrik und Religion ging es da, und Religion heißt Hoffnung, und Lyrik heißt auch Hoffnung, beide gehen sie durch die Trauer und mit uns in der Trauer, denn sie wissen, dass nicht nur mathematisch gesehen noch etwas kommt, sondern dass die Reichhaltigkeit möglicher Bedeutung nie ausgeschöpft ist, und damit helfen sie uns über unsere eigene Erschöpfung, unsere endlich errungene Unzulänglichkeit hinweg.

Du sagst nicht Hoffnung, Du sagst Liebe, aber was ist da schon der Unterschied? Die Liebe, sagst Du, »findet nirgends eine solche Zuflucht wie im Gedicht«. Und: Wir »werden in ihre [der Gedichte] zärtliche Obhut einkehren dürfen, wann immer die Welt sich abwendet von Ihnen, wenn sie Ihnen unverständlich wird, beginnt das Gedicht mit Ihnen zu sprechen«.

Du hast zu kämpfen, liebe Nancy, aber dass wir Hoffnung und Liebe auch durch Dich erfahren dürfen, das ist schon etwas ganz Besonderes. Du fragst: »Sind Gedichte nicht auch ein sehr intimes Zwiegespräch, manchmal über Äonen hinweg, ein Gespräch, dass nicht abreißt, nicht abreißen darf?«

Das sehe ich auch so, hoffnungsvoll und liebevoll und nancygeneigt. Das Gedicht als Zwiegespräch, ein Gedicht kann ein anderes beantworten. Trotzdem würde ich gern einmal mit Dir telefonieren. Ich versuch’s später noch mal.

Bis dahin herzliche Grüße
Dein Christophe
 

Nancy Hünger
Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett

Gedichte
edition AZUR, Dresden 2017
Softcover, 118 Seiten
ISBN: 978-3-942375-28-3

 

Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet. Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert