Dichterbriefe – Folge 5: Erschütternd – Christophe Fricker schreibt Werner Söllner

Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.

 

Lieber Werner,

als Jugendlicher wurde ich einmal in die Oper eingeladen. Eine kurze, hieß es, anderthalb Stunden, dann können wir was trinken gehen. Naja, dachte ich. Schon nach wenigen Minuten merkte ich, wie sich meine Hände in die Armlehnen krallten. Elektra war das. Nach anderthalb Stunden hatte ich Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Alkohol hatte sich erübrigt.

So ging es mir jetzt auch gerade mit Deinem neuen Buch Knochenmusik. Fünfzig Seiten Gedichte, und vorher hatte ich schon einmal geschaut, ob Bier im Kühlschrank ist. Dann geht es los: Auf Seite 8 hat man schon zwei geliebte Menschen sterben sehen. Das Herz Deines Vaters und die Schenkel Deiner Mutter und Du als »Rotz und Wasser«. Das Herz Deines Vaters in Deinem Mund und der Mund Deiner Mutter, sie »stirbt | sich jetzt gesund«. Unausgesetzte Körperlichkeit ist aber nicht das Bedrückende, sondern ihre Einordnung in die großen Fragen – in das, was »in gewissem Sinne | Gedichte« sind, in den Glauben »an das Wort | Gerechtigkeit« (der Zeilenumbruch zeigt: nicht jedes Wort ist glaubhaft). Auf S. 10 dann der Quastenflosser – nach Vater und Mutter nun Du? Die sorgfältige, nüchterne Beschreibung verleitet zur allegorischen Interpretation.

Was soll da noch kommen? Auf diese einfache, vom Leser durchaus mit Sorge gestellte Frage gibt Dein Buch eine dreifache Antwort: Einerseits geht es so weiter – das Buch ist sehr sorgfältig komponiert. Zweitens tritt ein düsterer Humor hinzu, der sich in umgangssprachlichen Versen, qualvoll gelungenen Reimen und augenzwinkernden Motiven äußert (»An einem Tag im November, als ich | aus einem Versehen heraus | Erich Fried war […]«). Die gereimten Gedichte – dreimal vier Zeilen umfasst ein jedes – will man gesungen hören, von Lotte Lenya vielleicht (jedenfalls weder Max Raabe noch Reinhard Mey noch Grönemeyer). Und drittens treten als die beiden Mächte, die ohne jeden Zweifel mit uns selbst und den von uns geliebten Menschen in engster Beziehung stehen, die Sprache und die Geschichte auf.

Die Sprache, die auf einen Kaffee bei Dir vorbei kommt wie eine alte Bekannte, sei »allein | in der Welt«, sagst Du, aber hier schwingt ein sarkastischer Unterton mit, der eher das Selbstbild des in sich gekehrten l’art pour l’art der modernen Lyrik-Päpste und Alternativlosigkeits-Diskurshoheiten meint (»Die Welt ist unter die Redner | gekommen«) als die Sprache in jener Fülle, aus der Du schöpfst.

Und die Geschichte? Ist eine dunkle, wabernde Macht, die den Menschen verunsichern, aber nicht in Frage stellen kann. »Tötet nicht eure Feinde, ihr werdet | sie brauchen! Die Zukunft ist beunruhigend | nah, einen Steinwurf entfernt«, sagst Du (wieder so ein unheimlicher Zeilenumbruch!), aber Du findest Dich auch »vertieft | ins Selbstgespräch der Geschichte«. Und vor allem magst Du auch im Leiden Dich nicht aufgeben: »Das Leben hat Geduld – | es läßt sich leben. || Nur ich hätt’ es gern anders.« Nämlich wie? Wenn es »keine Nackten« gibt, sondern nur noch »Fakten«, bleibt die Einladung: »Laß uns wandern.« Ohne Ausrufezeichen, sicher, wie gesagt, weder Reinhard Mey noch Grönemeyer, aber doch eine Einladung. Du sagst: »Wie klein meine Liebe«, aber Du sagst: »die zu dir hält.«

Was ist das für ein Gedichtband, lieber Werner, über dem ich das Bier im Kühlschrank vergesse? Ein düsterer und ein tröstender, und beides in einer Intensität, wie sie sich kaum je einem Leser zuspricht. Hier geschieht es. Wenn Du wanderst, der Hund Dir voraus (man denkt an Rilkes »Orpheus. Eurydike. Hermes«, aber das führt nicht weiter), der Vater hinter dir. Wenn Du sagst: »Ich will jetzt lieber leben«, nach all dem Leid, lieber Werner, wie kann das sein? Du drehst den Spieß um und fragst mich: Wieso sollte es denn nicht sein?

Und dann schreibst Du das Gedicht »Wetterlage«, dessen Schlusszeilen so ungeheuer sind, dass ich sie hier nicht zitiere. Wer auch nur die dünnste Ader für Gedichte hat, soll sie selbst lesen, ohne meinen Brief hier als unbeholfenen Mittler, und bei Dir sein, Deiner Sprache, bei unserer Sprache und unserer Geschichte, die so schmerzt und so strahlt.

Es gibt ein paar wenige Dichter, deren nächsten Gedichtband man jahrelang erwartet; und noch viel weniger, für deren neuen Band man zutiefst dankbar ist. Für Knochenmusik bin ich dankbar.

Im Gedicht »Knochenmusik«, sagst Du, Du gehest jetzt »einen heben«. Sei herzlich gegrüßt, lieber Werner, von
Christophe
 

Werner Söllner KnochenmusikWerner Söllner
Knochenmusik

Gedichte. Mit einem Nachwort von Eva Demski
Edition Faust, Frankfurt a. M. 2015
Hardcover, 72 S.
€ 18,– (D)

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Christophe Fricker. Foto: © Chiara Dazi
Christophe Fricker.
Foto: © Chiara Dazi

Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet.Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.

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