Christophe Fricker schreibt jeweils am 1. des Monats einem Dichterfreund, dessen Buch er gerade gelesen hat. Die Texte sind eine Mischung aus Offenem Brief zu Lyrik und Gesellschaft, bewusst parteiischer Rezension und vertrautem Austausch. Und damit hoffentlich auch weniger langweilig als Rezensionen, die ihre eigene Voreingenommenheit vertuschen.
Lieber Matthias,
Ägyptische Plagen, ägyptische Plagen, erschöpfte Fahrten, zermürbte Wanderungen, Wüstenwege, wunde Erinnerungen, brennende Sonne, kaum eine Aussicht auf Erlösung – Dein schlanker Band, die dreizehn Gedichte, die kargen, dickschwarzen Illustrationen, sie machen einem das Lesen nicht leicht. Nicht weil sie schwer zu verstehen, sondern weil sie so deutlich und eindrucksvoll sind. Der Leser leidet mit.
Und genau diese Deine Plagen sind uns zur Oase geworden vor einigen Wochen, als wir sie in Bristol übersetzten, der Rilke-Übersetzer Robert Vilain, sieben meiner Studenten und ich. Mitten in der Prüfungszeit hat uns die Auseinandersetzung mit den Schmerzenszeilen und den schönen Zeilen klargemacht, wieviel uns nahegehen kann, wenn wir nur mitgehn.
Ich muss also nicht eigens betonen, hoffe ich, dass die achtundachtzig Gedichte, über die ich letzten Monat hier klagte, nichts mit Deinem Werk zu tun haben, auch wenn 88 und 22 und 44 und 111 Gedichte in Deinen Büchern stehen – und 55 jetzt kommen, wie schön! (You heard it here first!)
Du bist uns entgegenkommen bis nach Bristol, und dann sind wir losgegangen. Wie viele Füße? Egal. Manche Deiner metrischen Gedichte, auch die in klassischen Formen, umfassen vier-, fünf-, sechs- und siebenfüßige Zeilen, und das macht Dir gar nichts aus. Aber Du legst großen Wert darauf, dass sie deutlich hörbar metrisiert sind. Den starken Rhythmus liest Du uns laut vor. Und was aussieht wie »freie Rhythmen« (ein verschämter Euphemismus für die Wurstigkeit des 20. Jahrhunderts – »Am I bothered?«), sind Jamben und Daktylen, die Dein dichterisches Sprechen voranbringen. »Metrically aware«, sagen manche. Und dann ergeben sich großflächig rhythmische Passagen, und genauso ergeben sich Reime, das passiert, und dann passiert es noch öfter.
Und wenn man gereimte Gedichte übersetzt, gibt es immer auch Binnenreime und ganz viele Assonanzen, weil dem Übersetzer bei der Suche nach dem besten Reim noch viele weitere, mögliche Reime begegnen, die nicht an Zeilenenden zu stehen kommen, aber im Gedicht sich einnisten. Und ich glaube, auch die großen Formen ergeben sich so, aus dem bewussten Sprechen, nicht aus einem abstrakten Willen zur Form. Im Eurostar ein paar Reihen weiter sitzt, während ich dies schreibe, ein Rugby-Team. Vorher gab es mit dem vielen Gepäck Trubel, und zwei der älteren Begleiter der Spieler sprachen von sich als »us two decapitated referees«. Pentameter. In fertigen Sonetten werden sie nicht sprechen, aber absurd ist ein solcher Gedanke auch nicht.
Wie übersetzt man das? Der Übersetzerberuf ist heute von vielen technologischen Veränderungen betroffen. Unter anderem ermöglichen es Spracherkennungsprogramme dem Übersetzer, seine zielsprachlichen Versionen einzusprechen. Die Grenze zwischen Übersetzern und Dolmetschen verschwimmt. Wie auch bei Dir die Berliner Mauer zwischen alltäglichem Sprachereignis und unerhörtem Sprachkunstwerk gefallen ist. Dass aber biblische Spuren, romantisches Treibgut, moderne Innovationen und persönlicher Charme zusammenkommen und bei uns Lesern ankommen können, ist dem Rhythmus geschuldet, der sie zusammen trägt.
Neulich sprach ich mit dem Dichter Klaus Anders, der mir erzählte, dass am metrischen Schreiben schon Freundschaften zerbrochen sind. Ist Dir das auch schon mal so gegangen? Hast Du Dir mit Deinen Gedichten Feinde gemacht?
Du legst es darauf an, gelesen zu werden – Deine frühe, experimentelle Phase ist lang vorbei. Wer sich so um seine Leser – um die Menschen um ihn herum bemüht, kann der etwas erreichen? Hast Du mit Deinen Gedichten von Spaziergängen in St James’s Park oder vom schimpfenden Autofahrer in Hamburg oder mit Deinen Playmate-Sonetten etwas erreicht? Eine unbequeme Frage, ich weiß, aber eine, die sich wohl jeder Mensch einmal stellt. Warum also soll man sie nicht einem Dichter stellen, den man gerne liest? Eine unbequeme Frage als Kompliment …
Und schließlich, vielleicht in derselben Spur, noch eine weitere unbequeme Frage. Wer metrisch schreibt, denkt auch in Traditionen. Er lehnt nicht rundweg ab, was vor ihm kam. Er lernt von andern, die es früher besser konnten. Und umgekehrt hofft er vielleicht, dass andre, Jüngere von ihm lernen – mit ihm einig sind. Die Frage also einfach: Gibt es jemanden, der so wie Du schreibt? Für die Dichter der Avantgarden wäre die Frage ein Skandal; für Dich – hoffentlich nicht …
Herzlich grüßt dich
Christophe
Christophe Fricker, geb. 1978, schreibt über die Möglichkeiten von Freundschaft, die Grenzen des Wissens und die Unwägbarkeiten der Mobilität. Mit Tom Nolan und Timothy J. Senior veröffentlichte er den zweisprachigen, illustrierten Gedichtband »Meet Your Party«. 2015 gab er die »Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung« zwischen Ernst Jünger und André Müller heraus, die das Deutschlandradio eine »Sensation« nannte. Frickers Buch »Stefan George: Gedichte für Dich«, eine Einführung in das Werk Georges, stand auf Platz 2 auf der NDR/SZ-Sachbuchbestenliste. Für den Gedichtband »Das schöne Auge des Betrachters« wurde er mit dem Hermann Hesse Förderpreis ausgezeichnet.Alle bereits erschienenen Folgen von »Dichterbriefe« finden Sie hier.
Lieber Christophe,
vielen Dank fürs „Mitleiden“ beim Lesen der „Ägyptischen Plagen“! Wenn ein Leser das, was man seinerzeit mit sich selber ausgemacht und schließlich zu Papier gebracht hat, emotional nachvollzieht und zu seinem eigenen Schmerz macht, dann, erst dann, glaube ich, ist die höchste Form der Kommunikation zwischen Lyriker und Lyrikleser geglückt.
Metrisches Schreiben ist die Basis der Lyrik; sich an klassischen Formen zu schulen die Aufgabe des Lyrikers. Wer den Jambus beherrscht, wird auch in freien Versen rhythmisch schreiben und den Geist der Musik darin bewahren. Feinde habe ich mir mit dieser Einstellung zwar keine gemacht, jedenfalls nicht daß ich wüßte. Aber über Jahrzehnte stand ich mit damit fast völlig allein, Reim und Versmaß waren out, und das hat sich erst seit einigen wenigen Jahren geändert.
Habe ich etwas mit meinen Gedichten erreicht? Immer mal wieder hat mir ein Leser erzählt, daß dieses oder jenes Gedicht in seinem Leben eine wichtige Rolle spielte, daß es ihm aus dem Herzen sprach oder daß er’s übern Küchentisch hängte, einfach weil es ihm gefiel. Das sind die großen Momente im Leben eines Lyrikers, und sie sind sehr, sehr selten.
Schließlich Deine Frage, ob es jemanden gebe, der so schreibt wie ich. Kaum vorstellbar, oder? Wir sind ja alle auf sehr speziellen lyrischen (Lebens-)Wegen unterwegs; auch ich selber hatte nie das Gefühl, so zu schreiben wie XYZ. Aber im Grunde darf ich die Frage an Dich zurückgeben, sie kann höchstens „von außen“ entschieden werden. Herzliche Grüße retour – MP