rezensiert von Erich Jooß
Autoren, die Kindergedichte veröffentlichen wollen, müssen sich heutzutage auf eine frustrierende Verlagssuche begeben und kommen, wenn überhaupt, mit ihrem Manuskript höchstens bei einem Kleinverlag unter, der die Marktregeln noch nicht verinnerlicht hat. Demgegenüber erfreuen sich umfangreiche Anthologien mit Kindergedichten nach wie vor großer Beliebtheit. Dieser Widerspruch dürfte sich aus dem Besitzdenken der meist erwachsenen Buchkäufer erklären, die ihren familiären Bildungshaushalt noch mit klassischen Kindergedichten möblieren wollen. Wer aber – wie Uwe-Michael Gutzschhahn und die Verlagsgruppe Random House – eine schwergewichtige Sammlung mit keineswegs bildungsaffinen Nonsens-Reimen wagt, widersetzt sich solchen Erwartungen. Stattdessen begibt er sich in die Freiheit jener »Verrückten«, der Kinder wie der Erwachsenen, die gerne mit der Sprache spielen und absolut keine Neigung verspüren, Gedichte nach ihrem versteckten Sinn abzuklopfen.
Dass der Herausgeber Gutzschhahn selbst dem poetischen Nonsens huldigt, wissen die Leser seiner Bücher spätestens seit dem Band »Unsinn lässt grüßen«, der 2012 bei Gerstenberg erschienen ist und von dem oft unterschätzten Erhard Dietl mit rätselhaft-schönen Radierungen versehen wurde. »Das dicke Buch vom Nonsens-Reim« ist freilich noch einmal ein ganz anderes Kaliber. Gutzschhahn hat den für ungeübte Ohren absonderlichen Titel der Anthologie bei einem Vierzeiler von Frantz Wittkamp entliehen: »Von hier nach da, von da nach hier. / Ein ewig ruheloses Tier. / Ununterbrochen schwimmt im Meer / Der Hinundhering hin und her.« Mit leichter Hand versteht es der Herausgeber, sein Publikum einzufangen. Das beginnt schon bei der Zuschreibung auf der Titelseite, einer Dedikation, die den Verlagsvertretern und Großeinkäufern der Buchhäusern kaum weiterhelfen dürfte: Denn der Band, so heißt es hier, ist gedacht »für unterwegs und für daheim / für Groß und Klein / für Hund und Schwein / und wer sonst mit dir schaut hinein.« Danach geht es auf den ersten Blick sehr deutsch, geradezu aufgeräumt weiter mit einem kurzen Vor- und Nachspiel und mit fünf Kapiteln, die jeweils dreißig Gedichte enthalten. Der Eindruck täuscht freilich…
Gutzschhahn wäre nämlich kein leidenschaftlicher Nonsens-Sammler, wenn er seine Funde kategorisieren würde. Stattdessen stößt der Leser auf eine anarchisch gestimmte Textmischung, die von Lessing über Chamisso bis zu Nestroy die deutsche Literaturgeschichte streift, einige unbekannte Verfasser mit ihren längst in den Literaturschatz aufgenommenen Gedichten würdigt und schließlich im 20. Jahrhundert und in der Jetztzeit ganz zu sich kommt. Selbst die populäre Unterhaltung findet mit Heinz Erhardt und Otto Waalkes zu Recht Berücksichtigung. Die meisten Gedichte aber sind Entdeckungen. Dadurch wird das Buch zu einem Solitär unter den Lyrikanthologien. Am besten, man liest es ganz unsystematisch und wundert sich dabei über das eigene Lachen. Beckmesser werden vermutlich trotz der Textfülle das eine oder andere Gedicht, vielleicht sogar Autoren vermissen – ich selbst hätte gern mehr von den freilich gut ausgeleuchteten Dadaisten (Schwitters ist vertreten) oder von meinem Lieblingsdichter Günter Bruno Fuchs gelesen. Gutzschhahn darf man dafür nicht tadeln, denn er hat in seinem Buch eine reichhaltige deutsche Tradition der Nonsens-Gedichte freigelegt und er hatte die schwierige Aufgabe, das vorgefundene, riesige Material (ich weiß, kein schönes Wort) in einem Buch zu bändigen, das derzeit konkurrenzlos ist am Markt. Der »Schlusssatz« dieser Besprechung soll an den Herausgeber gehen. Er hat die Illustratorin des Buches für ihre künstlerische Leistung auf eine Weise gewürdigt, wie ich es nicht treffender hätte tun können. Wer den Band aufschlägt, wird von ihren Bildern in einen unsinnigen Diskurs verwickelt, der jenem der Gedichte ebenbürtig ist. Sabine Wilharm gelingt es nämlich, den »Nicht-Sinn der Gedichte zeichnerisch ins Absurde, Verrückte, Unglaubliche, Widersinnige« fortzuführen.
Uwe-Michael Gutzschhahn
Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her
Das dicke Buch vom Nonsens-Reim
cbj, München 2015
Hardcover, 192 S.
€ 19,99 (D)
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Erich Jooß (Höhenkirchen) veröffentlicht neben eigenen Lyrikbänden auch Lyrikanthologien, Bilderbücher und Erzählbände. Jooß ist Vorsitzender des Medienrats in Bayern und Vizepräsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Zuletzt erschien von ihm »Am Ende der sichtbaren Welt« (Verlag St. Michaelsbund, München 2011).