Fremdgehen, jung bleiben – Folge 16: Samuel Kramer

Junge Lyrik sieht sich selbst oft als eine Quelle der Innovation. Die Schnelllebigkeit der modernen Sprache, die Vielfalt der heutigen Gesellschaft mit all ihren frischen Einflüssen aus Ost, West, Süd und Nord verändern auch die Literatur tiefgreifend. Und so legt Leander Beil an jedem 8. des Monats den Fokus auf das kulturell und sprachlich Andere, das vermeintlich Fremde in der noch jungen Textwelt. »Fremdgehen, jung bleiben« nimmt jeweils einen Text oder Textausschnitt unter die Lupe und spielt essayistisch mit diesem – ohne den Spielregeln einer starren Analyse zu folgen.

 

Es ist Sonntagabend. Die Teller sind bereits leer, das Bier ist offen, der Tatort flimmert in den Wohnzimmern. Verfolgungsjadgen, Schießereien, explodierende Autos – das ist es, was sich jedermann jetzt zu wünschen scheint.

Und doch hält das gefühlt einzige längerfristig überlebensfähige Produkt der deutschen Fernsehwelt nur selten, was es verspricht. Die feine Kunst der Sprache tritt in den Hintergrund vor lauter Reibung, Feuer, Rauch und Action.

Und genau da könnte man auf den Jungdichter Samuel Kramer (geboren 1996 in Gießen) zu sprechen kommen. Denn in seinem Text gibt es all das – die Action, den Rauch und die Reibung. Jedes Wort, jedes Satzzeichen ist das Schwarzpulver eines Gedichts, das sich im letzten Wort selbst auflöst. Mit dem letzten Vers (»unsere Häute verschmelzen«) ist die Metamorphose der Berührung vollzogen. Das Feuer ist entzündet.

Kramer macht deutlich, dass in nur vier Zeilen erzählt werden kann, was so mancher Tatort in 90 Minuten nicht schafft. Er baut vorsichtig auf bis zum Höhepunkt, gibt dem Leser den Todesstoß (»todesmutig«) und löst dann gekonnt auf.

Und so zeigt er uns: Als unzeitgemäß abgetan ist Lyrik doch gerade heutzutage das ideale Medium für Zeit- und Rastlose. Und dafür ist es eigentlich nicht mal nötig, ein (wenn auch sehr schönes) Zitat von Wolfgang Herrndorf voranzustellen. Denn große Geschichten ganz klein – das können Gedichte wie das von Samuel Kramer auch so.
 

Du weißt nicht, wo du hinwillst. Du weißt nicht, warum du wo hinwillst.
Du musst zum Arzt und willst nicht – und weißt nicht, warum.
Na komm. Was weißt du denn?
Dafür, dass er nicht viel wusste, dauerte seine Erzählung ganz schön lang.

– Sand, Wolfgang Herrndorf

 

rauch. aufgeraute finger zündeln
ineinandergehakt abwartend fast
ordnungsgemäß todesmutig

unsere häute verschmelzen
 

© Samuel Kramer, Frankfurt
 

Leander Beil. Foto: Volker Derlath
Leander Beil. Foto: Volker Derlath

Leander Beil, geboren 18.08.1992 in München, lebt und studiert nach mehrjährigem Brasilienaufenthalt in München. Mitglied des Münchner Lyrik-Kollektivs »JuLy in der Stadt« (www.julyinderstadt.de). Erste Lyrikveröffentlichungen in »Drei Sandkörner wandern« (Deiningen, Verlag Steinmeier 2009), Versnetze 2/3 (hg. von Axel Kutsch, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe 2009), NRhZ-Online (Literatur), »Die Hoffnung fährt schwarz« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Ois is easy« (München, Verlag Sankt Michaelsbund 2010), »Der deutsche Lyrikkalender 2012« (Boosstraat, Alhambra Publishing 2011), www.lyrikgarten.de (Online Anthologie des Anton G. Leitner Verlags), DAS GEDICHT Bd. 17, Bd. 18, Bd. 19, Bd. 22, Bd. 23 (Weßling, Anton G. Leitner Verlag), »Pausenpoesie« (Weßling, Anton G. Leitner Verlag 2015).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Fremdgehen, jung bleiben« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert