»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan-Eike Hornauer
Herbstbild nach Hebbel
Ich sah des Landes ält’ste Jungfrau steh’n;
gebeugt, verbraucht, ganz bleich und schrundig rot.
Da sprach ich schaudernd im Vorübergeh’n:
»Noch nie im Leben und beinah schon tot.«
Um sie herum die neue Gen’ration,
so keck und sexy und von frohem Sinn.
Ein Mädchen streift sie und ein zweites schon,
ein drittes noch, dann stürzt sie hin.
© Jan-Eike Hornauer, München
+ Das OriginalFriedrich Hebbel
Sommerbild
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehen:
»So weit im Leben, ist zu nah am Tod!«
Es regte sich kein Hauch am heißen Tag,
Nur leise strich ein weißer Schmetterling;
Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
Bewegte, sie empfand es und verging.
+ Zum Autor
Jan-Eike Hornauer, geboren 1979, lebt als freier Textzüchter (Autor, Herausgeber, Lektor und Texter) in München. In Lübeck auf die Welt geworfen, aufgewachsen in Hausen bei Aschaffenburg, Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik (u. a. komische Gedichte) und Kurzgeschichten unterschiedlichster Stimmungslage. Er ist zweiter Vorsitzender des Münchner Künstlervereins Realtraum. Zuletzt von ihm erschienen: die Lyrik-Bände »Der schmunzelnde Poet. Neue komische Gedichte« (als Herausgeber und Mit-Autor, Candela) und »Schallende Verse« (Einzeltitel, Lerato) sowie die Prosa-Anthologie »Grotesk!« (als Herausgeber und Mit-Autor, Candela). Hier auf DAS GEDICHT blog hat er bislang drei Online-Anthologien verantwortet, zu denen er auch je eigene Beiträge beigesteuert hat: »Wenn Liebe schwant«, »Vom Leder gezogen – zur WM 2014 in Brasilien« und »Wenn Liebe schwant II«. www.Textzuechterei.de/Autor.html
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung erstveröffentlichter zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.