»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan Causa
das schiff des theseus
und in der frühe diese
schwarzen schiffe antitouristisch
lärm im kopf beharren auf dem ich
das ihnen gemacht wurde wissen
nur was außerhalb von ihnen ist :
hunderte krächzender nicht
identischer bestens vernetzter krähen
(kabarettgelächter) kolonisieren
das wintergesicht der bäume in
kluger gut organisierter verrücktheit
über der schneebedeckten straße
zwischen bourbonne les bains und
luxeuil unter denen der richter thibaud m.
am mittag zu tode kommt und von dem
der todgeweihte landarbeiter henri m.
alle lebenswichtigen organe empfängt
bei versickerndem rot gegen die planken
des tages und am abend darauf noch
ungelichtet die anker und unverhallt
das summen der nähte : ich lebe dich
© Ingo Wachtmeister, Iserlohn
+ Das Original
Zentral referiert Jan Causa in »das schiff des theseus«, das die Frage der Identität bzw. doppelten Identität auf beeindruckende Weise poetisch anschneidet, auf die folgenden Verse Hugo von Hofmannsthals aus »Sünde des Lebens« sowie auf das sogenannte Theseus-Paradoxon, das bereits seit der Antike philosophisch diskutiert wird: In ihm wird hinterfragt, ob ein Objekt seine Identität verliert, wenn viele bzw. alle Teile von ihm nach und nach ausgetauscht werden. Zudem wird hinterfragt, was geschieht, wenn alle seine Teile auf einmal ausgetauscht sowie die Original-Teile zugleich zu einem neuen Objekt zusammengesetzt werden. Das Beispielobjekt hier ist ein Schiff, das Schiff des Theseus. Nimmt man alle seine Planken fort und ersetzt sie und erbaut zugleich aus den fortgenommenen Planken wieder ein Schiff – gibt es dann zweimal das Schiff des Theseus, existiert es gar nicht mehr oder ist es genau eines (aber welches?) der zwei Schiffe?
Hugo von Hofmannsthal
Mensch!
Verlornes Licht im Raum,
Traum in einem tollen Traum,
Losgerissen und doch gekettet,
Vielleicht verdammt, vielleicht gerettet,
Vielleicht des Weltenwillens Ziel,
Vielleicht der Weltenlaune Spiel,
Vielleicht unvergänglich, vielleicht ein Spott,
Vielleicht ein Tier, vielleicht ein Gott.
Aus: Sünde des Lebens
+ Zum Autor
Jan Causa (i. e. Ingo Wachtmeister) wurde 1938 in Pyritz (Pommern) geboren. Nach dem Abitur trat er 1959 in die deutsche Luftwaffe ein, die er 1992 als Oberstleutnant vorzeitig verließ. Er lebt heute in Iserlohn als Pensionär und freier Autor. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind Lyrik und Kurzprosa. Im Jahre 2002 erschien sein heiterer-kritischer Prosaband »Baudissins Erben«. Er hat zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Ruhr-Mark-Lyrikpreis 2007. Er war Autor des Onlinemagazins »Der Skorpion – international« (Magazin für Literatur und Gesellschaft), das inzwischen eingestellt wurde. Causa ist Mitherausgeber und Autor des Berliner Onlinemagazins »Die Gießkanne« sowie Förderer der Neuausgabe der »Fackel« des Kösel-Verlags, München. www.Jan-Causa.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.