»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Holger Paetz
Von Trauer getrieben
Markt und Plätze sind verlassen.
Stille herrscht vor jedem Haus.
Schluchzend geh ich durch die Gassen.
Sah es je so freudlos aus?
An die Fenster haben Frauen
rote Wimpel hingesteckt.
Fahnen auch. Ich will nicht schauen.
Denn ich werd sonst noch verrückt.
Sterne hoch vom Himmel leuchten.
Morgen wird ein warmer Tag.
Kann es denn nicht feste feuchten?
Nein, kein Trost geschehen mag.
Rastlos treibt mich durch die Straßen
wildes Weh; nicht Wut, nicht Zorn.
Kann es immer noch nicht fassen.
Bayern München hat verlorn.
© Holger Paetz, München
+ Das Original
Joseph von Eichendorff
Weihnachten
Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.
Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heilges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt’s wie wunderbares Singen –
O du gnadenreiche Zeit!
+ Zum Autor
Holger Paetz, geboren 1952 in München, wo er heute auch lebt, ist Kabarettist, Song-Poet, Autor und Schauspieler. Aufgewachsen in Aschaffenburg, ging er zum Studium an der philosophischen Fakultät nach Würzburg, es erfolgte schließlich ein »Abbruch ohne Wehklagen von beiden Seiten«, wie Paetz es beschreibt. Paetz begann seine künstlerische Karriere, wurde 1976 mit dem Liedermacherpreis des Hessischen Rundfunks ausgezeichnet und zog 1977 nach München, wo er sich in der Kleinkunstszene etablierte und nebenher Friedhofsgärtner, Kellner und Archivar war. Seine Solo-Programme führten ihn schließlich bis auf die großen Kabarettbühnen der Republik sowie in die bedeutenden Kabarettfernsehprogramme, etwa »Scheibenwischer«, »Mitternachtsspitzen«, »Ottis Schlachthof«. Von 1999 bis 2009 war Paetz Autor des Nockherberg-Singspiels, dort gab er zudem den FDP-Politiker Guido Westerwelle. Paetz wurde u. a. mit dem Salzburger Stier (Pate: Dieter Hildebrandt; 1996), dem Kabarettpreis der Landeshauptstadt München (1999) und dem Schwabinger Kunstpreis (2013) ausgezeichnet. Aktuelles Soloprogramm: »Ekstase in Würde«. In Buchform sind von ihm erschienen: die Gedichtbände »Der Hausverlasser« und »Pure Lyricks« (Holger Paetz Verlag 2017 bzw. 2016).
www.holger-paetz.de und
www.paetz-verlag.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.