»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jan-Eike Hornauer
Sonett drängendster Sehnsucht
Ach, übermächtig scheint mir mein Verlangen,
das mir mein Denken immer mehr zerfrisst
und wahrhaft schon ein sehr Spezielles ist.
Ich sag’ nicht was, man würde mich sonst fangen.
In jackenweißer Anstalt eingesperrt verbrächte
ich – da der Mensch ja, was er nicht versteht,
am allerliebsten möglichst weit umgeht –
fortan wohl jeden Tag. Und alle Nächte.
Ach was, ich will die Wahrheit endlich sagen,
sie ist nach Bachmann immer zumutbar:
Der Lyrikgipfel lockt mich gleich Sirenen.
Nur fehlt mir das Talent, ihn auch zu nehmen.
Ja, das Sonett, das schaff’ ich nicht, ganz klar,
selbst den Versuch trau’ ich mich nicht zu wagen.
© Jan-Eike Hornauer, München
+ Das Original
Mynona
Sonett Nr. 1
In alte Schläuche taugt kein neuer Wein,
Der Dichter dichte, wie zum Beispiel Whitman;
Die Seele immer neu schafft ihre Rhythmen,
Wer heut’ Sonette macht, ist nur ein Schwein.
Darum auch hüt’ ich mich davor, allein
Ich darob beruhigt, denn ich glitt, wenn
Ich’s auch wollte, nicht in diesen Ritt, denn
Grad zur Sonettform sag’ ich immer: nein!
Ich hoppse, wie die Muskeln mir’s diktieren,
Will nicht in fremde Form gezwungen sein.
Und fühle mich ganz frei in meiner – meiner!
Pfui Teufel, sollt’ ich je Sonette schmieren:
Ich will ich selbst in meinen Lungen sein
Und niemals atmen in Petrarkas seiner.
Ein weiteres Vorbild ist hier natürlich auch das heute wohl berühmteste Anti-Sonett-Sonett, nämlich »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« von Robert Gernhardt.
+ Zum Autor
Jan-Eike Hornauer, geboren 1979, lebt als freier Textzüchter (Autor, Herausgeber, Lektor und Texter) in München. In Lübeck auf die Welt geworfen, aufgewachsen in Hausen bei Aschaffenburg, Studium der Germanistik und Soziologie in Würzburg. Seine literarischen Schaffensschwerpunkte sind: Lyrik (u. a. komische Gedichte) und Kurzgeschichten unterschiedlichster Stimmungslage. Er ist zweiter Vorsitzender des Münchner Künstlervereins »Realtraum«. Zuletzt von ihm erschienen sind sein zweiter Solo-Lyrikband »Das Objekt ist beschädigt – zumeist komische Gedichte aus einer brüchigen Welt« (muc Verlag 2016) und »Wenn Liebe schwant«, eine Anthologie mit neuen komischen Liebesgedichten zeitgenössischer Poeten (muc Verlag 2017). Hier auf »DAS GEDICHT blog« hat er mehrere Online-Anthologien verantwortet, zu denen er auch je eigene Beiträge beigesteuert hat (u. a. »Wenn Liebe schwant III« und »Vom Leder gezogen – zur EM 2016 in Frankreich« sind hier zu nennen). www.Textzuechterei.de/autor.html
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.