»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Jochen Stüsser-Simpson
Das Karussell
Jardin d’Europe 2018
Auf blauem Grund die Sterne blinken hell,
die Leute halten sich, rufen und reden.
Mit Schweizern, Spaniern, Slowenen,
mit Katalanen dreht sich’s Karussell.
Sitzen auf Spielzeugpferden, Hirschen, Elefanten,
in kleinen Kutschen und in bunten Wagen,
in den Gesichtern Mut, Ärger, Behagen.
Sogar ein wohlgestalter Stier ist da, weiß angemalt,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auf Elefanten und dem übrigen Getier,
die Frauen, Männer, Alte, Junge
und dann und wann das Mädchen auf dem weißen Stier.
Fast schon entwachsen diesem Schwunge,
schaun sie auf, irgendwohin, herüber –
vielleicht zum vielsprachigen Dichter
aus Tripolis Praga; ihre Gesichter,
wie durch’s Tempo sie immer mehr verwischen.
Und dann und wann das Mädchen auf dem weißen Stier.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
das kreist, dreht schneller sich inzwischen,
ein kleines kaum begonnenes Profil –.
Und manches Mal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose Spiel …
Und dann und wann das Mädchen auf dem weißen Stier.
© Jochen Stüsser-Simpson, Hamburg
+ Das Original
Rainer Maria Rilke
Das Karussell
Jardin du Luxembourg
Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.
Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –.
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil –.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel …
+ Zum Autor
Jochen Stüsser-Simpson, 1950 in Bonn geboren, aufgewachsen im Rheinland, lebt seit 1969 in Hamburg, nach dem Studium meist im Hamburger Westen. Seit vielen Jahren unterrichtet er Philosophie und Deutsch am Christianeum in Hamburg-Othmarschen. Er liest und schreibt gern, verfasst v. a. Lyrik und – manchmal schräge – Kurzprosa, gelegentlich Fachartikel. Mit seiner Erzählung »Totenschädel auf St. Pauli« (BookRix) belegte er den 2. Platz beim Deutschen E-Book-Preis 2013. Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien, u. a. in »Wenn Liebe schwant«, »Der schmunzelnde Poet« (beide hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017 bzw. Candela 2013) und DAS GEDICHT. Ende 2018 erscheint im Papierfresserchen-Verlag »Schauderwelsch«.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.